Zum Inhalt springen

«Friedensdemo» in Berlin Sahra Wagenknecht, Olaf Scholz und ein Anruf nach Moskau

Wir sehen auf der Bühne Sahra Wagenknecht. Ihre Partei, ihr Bündnis, ist nach ihr benannt. Bündnis Sahra Wagenknecht. In Ostdeutschland, nach den Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg, könnte sie dort bald mitregieren, mit der SPD, mit der CDU. Ihre Partei braucht es, um die AfD herauszuhalten aus den Staatskanzleien. Obwohl Wagenknecht so ziemlich alles vertritt, was CDU oder SPD ablehnen. Wagenknecht wurde innert Monaten zum Mega-Machtfaktor.

Wagenknechts Wahlerfolg basiert auf Positionen, wonach der Westen «Kriegstreiber» sei, die Nato eine Aggressorin, man also Verständnis für den russischen Präsidenten Putin haben solle. Im Osten Deutschlands haben ihr Bündnis und die AfD zusammen über 40 Prozent erreicht – mit sehr ähnlichen Putin-freundlichen und Ukraine-kritischen Positionen. Heute trifft sich Wagenknecht mit ihren Anhängerinnen und Anhängern zu einer «Friedensdemonstration».

Jubel bei Kritik an Nato-Plänen

Wir sehen auf der Bühne also Sahra Wagenknecht, die auf dem Weg ist an die Macht. Doch wer ist diese Frau? Geboren 1969 in der ehemaligen DDR. Nach (!) dem Mauerfall 1989 Eintritt in die untergehende DDR-Staatspartei SED. 2004 die Aussage: «Im Vergleich zur BRD war die DDR, was immer man im Einzelnen an ihr aussetzen mag, in jeder Phase ihrer Entwicklung das friedlichere, sozialere, menschlichere Deutschland.» Zum sowjetischen Diktator Josef Stalin fand sie freundliche Worte, ebenso zu Fidel Castro in Kuba und Hugo Chavez in Venezuela.

Nun also die Demo in Berlin. Natürlich ist nichts dagegen zu sagen, wenn Menschen für Frieden demonstrieren, für Freiheit. Im Gegenteil. Auf der Bühne sagt Wagenknecht, wie falsch die Ukraine-Politik sei, wie sinnlos die Waffenlieferungen des Westens, wie blauäugig die Politik von Kanzler Scholz oder Aussenministerin Baerbock. Putin erkennt sie als Aggressor im Konflikt zwar an – aber die Reaktion des Westens darauf geisselt sie mit schärfsten Worten. Man habe Putin ja schliesslich provoziert. Den wohl lautesten Jubel im Publikum erhält sie, als sie die Pläne der Nato kritisiert, in Deutschland neue Mittelstrecken zu stationieren. Über das Schicksal der Ukraine nach einem wie auch immer lautenden Deal mit Putin sagt Wagenknecht nichts.

Nervosität in Regierungs-Berlin

Mit ihren Positionen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine ist Wagenknecht ganz auf der Linie der AfD. Und klar auf der anderen Seite als die Regierungsparteien in Berlin und der CDU. Die Nato als tragendes Element der europäischen Sicherheit, die traditionelle Westbindung Deutschlands, das Bekenntnis zur EU – und zu einer freien Ukraine, welche den Angriffskrieg Putins nicht verlieren darf. Bundesrepublikanischer Common Sense, bisher.

Gleichsam ist in Regierungs-Berlin Nervosität zu spüren. Viele Menschen sind kriegsmüde, können die Bilder nicht mehr sehen, die Gewalt. Dazu kommt die Krise in Nahost – gefühlt wird es jeden Tag schlimmer auf der Welt. Da ist die Sehnsucht nach Frieden verständlich. Und gut zu bewirtschaften von Wagenknecht zum Beispiel.

Und genau jetzt in diesen Zeiten sickert aus dem Kanzleramt durch: Kanzler Scholz will erstmals seit dem 2. Dezember 2022 wieder mit Präsident Putin telefonieren. Ausloten. Mal hören, das Gespräch suchen. Noch gibt es keinen Termin – der Kreml lässt aber verlauten, es gebe «auf den ersten Blick keine gemeinsamen Themen», man bleibe aber offen für den Dialog.

Klingt widersprüchlich – aber Diplomatie findet auf der Hinterbühne statt. Nicht auf der Vorderbühne, dort, wo Sahra Wagenknecht steht.

Stefan Reinhart

Leiter Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten

Personen-Box aufklappen Personen-Box zuklappen

Stefan Reinhart ist Leiter der Ausland-Korrespondentinnen und -Korrespondenten und Chef vom Dienst im Newsroom Zürich. Zuvor war er Deutschland-Korrespondent für SRF.

Hier finden Sie weitere Artikel von Stefan Reinhart.

Tagesschau, 3.10.2024, 19:30 Uhr

Meistgelesene Artikel