Ist der Friedensnobelpreis 2022 ein Zeichen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin? Die Frage einer Journalistin an die Vorsitzende des Nobelpreiskomitees, Berit Reiss-Andersen, kam wenig überraschend, zumal alle drei Preisträger im weitesten Sinn dem Anti-Putin-Lager zugeordnet werden können – und dies just heute, an Putins 70. Geburtstag.
Wenig überraschend auch die Antwort von Reiss-Andersen: Der Friedensnobelpreis werde nie gegen jemanden verliehen, sondern immer für Menschen, Organisationen und vor allem Anliegen im Sinne des Preisstifters Alfred Nobel. 2022 für Menschenrechte, Demokratie und Vergangenheitsbewältigung in den drei ehemaligen Sowjetrepubliken Russland, Belarus und Ukraine.
Aber natürlich kann niemand wegdiskutieren, dass sich das fünfköpfige Nobelkomitee von der Welt- und Stimmungslage beeinflussen lässt – und sich in der Vergangenheit bisweilen zu Entscheiden hinreissen liess, für die es später heftig kritisiert wurde.
Mit den drei Preisträgern 2022 zeigt das Nobelkomitee, dass Russland, Belarus, die Ukraine und auch andere ehemalige Sowjetrepubliken mit ähnlichen Problemen kämpfen – aber damit in den vergangenen Jahren sehr unterschiedlich umgegangen sind.
Eine Provokation für Putin
Besonders dramatisch ist die Menschenrechtslage in Belarus unter Präsident Alexander Lukaschenko, Putins Verbündetem – dort sitzt der Menschenrechtsaktivist Ales Bjaljazki, einer der diesjährigen Nobelpreisträger, im Gefängnis.
Die ukrainische Organisation «Center for Civil Liberties», eine weitere Preisträgerin, engagiert sich heute für die Dokumentation von Kriegsverbrechen in der Ukraine. Doch seit ihrer Gründung 2007 hat sie sich vor allem auch als Kämpferin für die Demokratisierung einen Namen gemacht – durchaus zum Missfallen vieler ukrainischer Politikerinnen und Politiker, gegen Widerstände der Behörden.
Mit Erfolg: Die Ukraine hat sich – anders als Russland und Belarus – in den Jahren vor dem Krieg zu einer nicht perfekten, aber doch lebhaften Demokratie entwickelt. Für den russischen Machthaber Wladimir Putin muss das eine Provokation sein, zumal er dem ukrainischen Volk die eigene Identität abspricht und es als Teil der «russischen Welt» dem demokratischen Westen gegenüberstellt.
Drei Nachbarn, unterschiedliche Wege
Nicht gefallen dürfte Putin auch die dritte Preisträgerin, die russische Organisation Memorial. Sie hatte seit ihrer Gründung 1988 unter anderem Menschenrechtsverbrechen in der Sowjetunion aufgedeckt und dokumentiert – jener Sowjetunion, deren Untergang Putin als «grösste geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts» bezeichnet.
Das Oberste Gericht Russlands liess «Memorial» im vergangenen Dezember kurzerhand verbieten, die Organisation habe gegen ein Gesetz über ausländische Agenten verstossen. Damit führte das Gericht vor allem auch vor Augen, welch unterschiedliche Wege die drei vermeintlichen Bruderstaaten Russland, Belarus und Ukraine eingeschlagen haben.