«Geschätzte Freunde, ich gratuliere zum Start des internationalen Jugend-Forums 'Ingenieure der Zukunft'.» Dies verkündet Präsident Wladimir Putin am Montagnachmittag in die Kamera. Es ist sein erster Auftritt seit Samstagmorgen, als Wagner-Truppen mehrere russische Grossstädte eingenommen hatten und sich Putin gezwungen sah, vor einem möglichen Bürgerkrieg zu warnen. Alles Schnee von gestern.
Putins wütende Ansprache zu Beginn der Wagner-Meuterei stellt eine Ausnahme dar. Seit Beginn des Grossangriffs gegen die Ukraine äussert er sich selten zum konkreten Verlauf des Krieges. Oft schweigt er auch zu grösseren Ereignissen oder kommentiert sie nur schriftlich, über seinen Pressedienst. Zu den Überfällen pro-ukrainischer Kämpfer auf russische Grenzregionen etwa, oder zum mehrfachen Drohnenangriff auf Moskau sagte Putin wenig bis gar nichts.
In seinen öffentlichen Auftritten bleibt Putin meist auf einer ideologischen Ebene, wenn es um die sogenannte «Spezialoperation» geht. Das Sankt Petersburger Wirtschaftsforum vor zehn Tagen nutzte er, um eine mehrminütige Geschichtslektion zu halten und damit seinen Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen: Mit gespielter Lässigkeit holte er Dokumente hervor und liess gar düstere Videos abspielen, um die Beteiligung ukrainischer Nationalisten an den Gräueln des Zweiten Weltkriegs zu belegen.
Tiraden des Söldnerführers hallen nach
Doch zur Aktualität – zum Aufstand der Wagner-Truppen – hat Putin bislang offenbar nichts mehr zu sagen. Dabei wird die Reaktion der Sicherheitskräfte auf Prigoschins Meuterei selbst in der staatstreuen russischen Presse kritisch diskutiert. Die Rede ist von der «offengelegten Verwundbarkeit Russlands». Putin, der sich gerne als Garant für Sicherheit und Stabilität gibt, schweigt.
Solches Schweigen fällt auf. Wenn Putin über längere Zeit untertaucht, nährt dies Gerüchte über seine angeblich angeschlagene Gesundheit. Dafür gibt es allerdings keine Anhaltspunkte.
Doch eine Erzählung über den Präsidenten hält sich hartnäckig: Dass Putin meist in einem Bunker hocke und sich von seinen inkompetenten Ministern belügen lasse. Darauf nahm auch Jewgeni Prigoschin Bezug, kurz bevor er seinen Aufstand lancierte. Dem Präsidenten erzähle man konstant Blödsinn, sagte er.
Darin steckt ein Kern der Wahrheit. Seit der Pandemie hat sich Putin zunehmend isoliert, trifft sich nur noch mit einem kleinen Kreis an Vertrauten. Diese erzählen ihm oft nur das, was er ohnehin hören will, wie diverse Recherchen zeigen: So sei auch der Entscheid zum Grossangriff auf die Ukraine gefallen.
Ist der Schiedsrichter müde geworden?
Expertinnen und Experten glauben, dass Putin bei der tagtäglichen Regierungsarbeit eine weniger aktive Rolle spielt, als noch vor ein paar Jahren. Das schafft ein Vakuum, das sein ganzes Herrschaftssystem aus dem Gleichgewicht bringt. Sein System stützt sich wesentlich auf den Konkurrenzkampf verschiedener Gruppen im Staatsapparat. Putin spielt dabei den Schiedsrichter.
Prigoschins Aufstand hat gezeigt, dass die Aufmerksamkeit des Schiedsrichters nachlässt. Noch hält die russische Machtelite zu Putin, doch die Probleme an der Front und in der Heimat dürften ihnen offenkundig sein. Wenn sich der Präsident weiterhin heraushält, könnte die nächste Erschütterung des Systems Putin schon bald kommen.