Weltweit sind Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Menschenrechte unter Druck. Also genau jene Werte, die der Europarat in Strassburg vertritt. Die Organisation wurde geschaffen, um den Frieden in Europa zu bewahren – gleichwohl findet hier wieder ein grosser, blutiger Krieg statt. Diesem düsteren Bild zum Trotz ist Marija Pejcinovic Buric, die Generalsekretärin des Europarates, bemerkenswert optimistisch.
SRF: Russlands Krieg gegen die Ukraine ist eine enorme Herausforderung für internationale Organisationen. Er lähmt den UNO-Sicherheitsrat und die OSZE. Welche Folgen hat er für den Europarat?
Marija Pejcinovic Buric: Das trifft uns sehr direkt. Ein Mitglied von uns, die Ukraine, wurde angegriffen. Und zwar von einem anderen Mitglied, Russland. Russland hat die Regeln und Werte des Europarats derart krass verletzt, dass es nicht länger Mitglied bleiben konnte. Wir sahen uns also vor einer doppelten Herausforderung, nämlich sofort Russland ausschliessen und rasch der Ukraine zu Hilfe eilen – und zwar so lange sie unsere Hilfe braucht.
Der Europarat verlor sein grösstes Mitglied und damit auch dessen beträchtliche Mitgliederbeiträge – war Russlands Rauswurf auf der anderen Seite auch ein Gewinn, weil die verbleibenden 46 Mitglieder nun geeinter sind?
Es war entscheidend, dass wir Russland sogleich ausschlossen. Auch als Signal an alle anderen Staaten. Um zu zeigen, was passiert, wenn ein Mitglied zentrale Prinzipien und Standards des Europarats gravierend verletzt. Hätten wir unsere eigenen Prinzipien ignoriert, würde das den Frieden auch andernorts in Europa bedrohen.
Die russische Invasion und der Niedergang von Demokratie und Menschenrechten vielerorts sind bei vielen Staats- und Regierungschefs als Weckruf angekommen.
Wo kooperieren die Europaratsmitglieder nun besser?
Wir müssen enger zusammenarbeiten. Der jüngste Gipfel in Reykjavik – erst der vierte in der Geschichte des Europarats – hat das gezeigt. Die Mitglieder stimmten überein bei der Unterstützung der Ukraine. Ebenso bei der konsequenteren Durchsetzung der Europäischen Menschenrechtskonvention und der rascheren Umsetzung der Urteile des Menschenrechtsgerichtshofes. Zudem beschlossen wir, verbindliche Regeln auszuarbeiten, um Künstliche Intelligenz mit den Menschenrechten kompatibel zu machen. So stellen wir uns auch neuen Herausforderungen.
Die Bekenntnisse der Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel in Reykjavik zu den Prinzipien des Europarats waren deutlich. Doch zwischen den Reden und dem, was manche Regierungen zuhause tatsächlich tun, klafft ein tiefer Graben. Ist das für Sie nicht frustrierend?
Wir fällten klare Beschlüsse und sind bereits an der Arbeit. Natürlich: Den Worten müssen Taten folgen. Doch gerade die russische Invasion und der Niedergang von Demokratie und Menschenrechten vielerorts sind bei vielen Staats- und Regierungschefs als Weckruf angekommen. Wir müssen den Trend umkehren. Die Probleme verschwinden nicht von heute auf morgen. Ich bin zuversichtlich, dass bei vielen die Bereitschaft zu handeln nun da ist.
Russland war das problematischste Europaratsmitglied. Aber auch Grossbritannien scheint mit manchen Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention, etwa zur Flüchtlings- und Migrationspolitik, nicht einverstanden. Die Tory-Regierung droht gar mit einem Austritt. Werden die Briten wirklich dem Europarat den Rücken kehren?
Ich war vor Kurzem in Grossbritannien und traf dort mehrere Minister. Mein Eindruck ist: Sie werden ihre nationalen Gesetze nicht auf eine Weise verändern, die im Widerspruch zur Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Grossbritannien ist traditionell eines der Länder, die sich am besten an die Konvention halten. Und es trägt massgeblich zur Weiterentwicklung der Menschenrechte bei. Der Europarat braucht Grossbritannien. Ich bin nach meinem Besuch überzeugt, dass die britische Regierung im Europarat bleiben will.
Der Europarat steht für Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Genau diese drei Prinzipien sind derzeit weltweit unter Druck, selbst vielerorts in Europa: in der Türkei, in Aserbaidschan, Ungarn, Polen…
Ich publiziere regelmässig einen Bericht über die Menschenrechtslage in Europa. Und stelle fest, dass die Demokratie mancherorts erodiert. Im jüngsten wies ich besonders auf die Einschüchterung von Journalistinnen und Journalisten hin, teils sind es gar gewalttätige Angriffe.
Ich bin sicher, dass gerade die jüngsten Krisen den Europarat noch wichtiger machen: die Pandemie, der russische Aggressionskrieg, Wirtschaftskrisen als Folge der beiden Ereignisse.
Gesellschaften polarisieren sich. Es gibt Hassreden. Die bürgerlichen Freiheiten werden eingeschränkt. Das passiert nicht überall gleichermassen, aber es gibt Mitgliedsländer, wo wir die Entwicklung unbedingt umkehren müssen. Es gibt weltweit starke antidemokratische Tendenzen und Bewegungen. Wir müssen dem entgegenwirken. Es braucht Aktionspläne. Und wir müssen die Menschenrechtskonvention konsequenter durchsetzen.
Doch derzeit ist der Trend klar negativ. Gerade die Berichte Ihrer Organisation bieten alles andere als eine erbauliche Lektüre.
Es ist unsere Aufgabe zu beobachten, den Finger auf wunde Punkte zu legen. Und dann müssen wir, aufgrund unserer Erkenntnisse, mit jedem einzelnen Mitgliedstaat arbeiten, damit er sich verbessert. Ja, vielerorts ist die Lage nicht gut. Aber es gibt keinen erfolgversprechenderen Weg, als Mängel aufzudecken und dann mit politischem Druck und indem wir sie unterstützen, die Mitgliedstaaten dazu zu bringen, sich zu verbessern.
Sie befürchten also nicht, dass die unerfreuliche globale Entwicklung das Gewicht des Europarats nachhaltig schmälern, ihm seine Bedeutung rauben wird?
Ich bin sicher, dass gerade die jüngsten Krisen den Europarat noch wichtiger machen: die Pandemie, der russische Aggressionskrieg, Wirtschaftskrisen als Folge der beiden Ereignisse. Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, Regeln zu haben. Wir haben mehr als 200 verbindliche Konventionen. Womöglich ist der Europarat heute sogar wichtiger als zum Zeitpunkt seiner Gründung nach dem Zweiten Weltkrieg. Trotz oder gerade wegen der Probleme brauchen wir einen starken Europarat, der hilft, bei Menschenrechten, Rechtsstaat und Demokratie den Kurs in eine positive Richtung zu setzen.
Das Gespräch führte Fredy Gsteiger.