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Fussball verbunden mit Politik Erdogan hofft auf Kriegsdividende in Baku

Präsident Erdogan wird in Baku sein, wenn die Türkei heute gegen Wales spielt. Er hofft in Aserbaidschan nicht nur auf einen Sieg, sondern auch auf eine «Kriegsdividende».

Der aserbaidschanische Staatschef Ilham Aliyev sagte gleich nach dem gewonnenen Krieg um Berg-Karabach gegen Armenien, dass die «türkischen Brüder» für ihre Hilfe belohnt würden. Deren Militärberater und ihre Kampfdrohnen waren kriegsentscheidend, davon sind Experten überzeugt.

Nun werden Spitäler, Schulhäuser, Strassen und Stromnetze in den zurückeroberten Gebieten gebraucht. Und türkische Unternehmer sollen beim Wiederaufbau grosszügig bedacht werden.

Recep Tayyip Erdogans Aufstieg hatte viel mit dem Bauboom zu tun, der mit billigen Krediten aus dem Ausland möglich wurde. Eine neue Kaste von Baubaronen entstand in der Türkei. Der Präsident segnete sie mit Staatsaufträgen. Sie investierten im Gegenzug in seine Partei AKP und kauften Medienkonzerne, um ihn hochleben zu lassen.

Erdogan kümmert sich um seine Freunde

Vor allem diese Freunde dürfte Erdogan im Kopf haben, wenn er nun nach Aserbaidschan fährt, sagt der Türkei-Experte Gareth Jenkins in Istanbul, der Erdogans Politik für internationale Thinktanks analysiert.

Erdogan und Aliyev haben beide einen Hang zum Autoritären. Doch nicht immer waren sie sich so nahe. Das postsowjetische Aserbaidschan hat viel weltlichere Traditionen als die Türkei, wie sie sich Erdogan vorstellt, in der religiösen «Rückbesinnung». Beide Länder aber sind kulturell eng verwandt.

Sie haben fast die gleiche Sprache. Über diese kulturellen Bande fanden die beiden zueinander, und übers Geschäft. Das begann schon vor dem Krieg.

Türken bauen bereits

Seither aber habe das Geflecht eine neue Stufe erreicht, sagt Jenkins. Schon unter Dach etwa ist ein Vertrag für einen Flughafen im Gebiet, das Aserbaidschan zurückerobert hat.

Strategisch gesehen war der Kriegserfolg Aserbaidschans für die Türkei auch deshalb interessant, weil künftig ein schmaler, aber direkter Landkorridor die Länder verbinden soll und so via Aserbaidschan potenziell andere Turkvölker weiter östlich in Zentralasien näher an die Türkei heranrücken, von Kasachstan bis Usbekistan.

Doch was wird Erdogan zuhause davon haben? Applaudieren wird sein kleiner rechtsnationalistischer Koalitionspartners MHP. Dieser hat sich die Freundschaft unter den Turkvölkern auf die Fahne geschrieben. Gemessen wird der türkische Präsident insgesamt aber nicht an der Pflege der Beziehungen in der turksprachigen Welt, sondern daran, ob er die Türkei aus ihrer tiefen Wirtschaftskrise zu führen vermag.

Davon aber sei weiterhin nichts zu erkennen, sagt Türkei-Experte Jenkins. «In seinen Anfangszeiten handelte Erdogan nach langfristigen Plänen.» Inzwischen mache er Politik nur noch als eine Abfolge von Einzelaktionen, die allenfalls kurzfristigen Vorteil brächten.

«Anzeichen des Zerfalls»

Ein Zeichen von Ratlosigkeit, ja beginnender Verzweiflung? «Ich denke schon», sagt Jenkins. Er beobachtet Erdogan seit über 30 Jahren, hat dessen Aufstieg und Höhen gesehen und sieht nun «Anzeichen des Zerfalls». Daran werde auch die Kriegsdividende nichts ändern, die Erdogan in Baku für die türkischen Baubarone einzufahren gedenkt.

Immerhin, etwas Balsam für den angeschlagenen Staatschef und einstigen Amateurfussballer Erdogan wäre, wenn die türkische Mannschaft am Abend gegen Wales gewinnt. Es wird eine Art Heimspiel werden, denn auch das Fussballstadion in Baku wurde von einem türkischen Konsortium gebaut.

Rendez-vous, 16.06.2021, 12:30 Uhr

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