Wer nach Südafrika fliegt, will nach Kapstadt. Die pittoreske Stadt am Ende von Afrika oder am Anfang, je nach Sichtweise, ist allein wegen ihrer spektakulären Lage und dem Tafelberg ein Touristenmagnet. Das Kap der Guten Hoffnung ist in der Nähe, Pinguine gibt es auch und die wilden Küsten sind atemberaubend. Doch Kapstadt hat noch ein anderes Gesicht – ein hässliches.
Leben in den Flats
Wer die Augen offen hält, blickt hinter dem Tafelberg in Kapstadts Abgrund. Hier leben die meisten der viereinhalb Millionen Einwohner der Stadt in miserablen Verhältnissen. Neue Zuwanderer aus ländlichen Gegenden errichten Blechhütten, andere quetschen sich in Wohnungen, die häufig von mehr als 20 Personen geteilt werden.
Die Cape Flats, wie die Gegend hinter dem Tafelberg heisst, gilt als Abfallhalde der Apartheid. In den sechziger Jahren wurden alle Farbigen und Schwarzen aus der Innenstadt geworfen und hinter den Berg verpflanzt. Ganze Nachbarschaften wurden zerstört, Familienbande zerrissen.
Das Königreich der Gangs
Die Farbigen – ein Apartheidsbegriff für alle gemischt-ethnischen Menschen – sind jene, die immer das Nachsehen hatten. Während der Apartheid waren sie nicht weiss genug, heute sind sie nicht schwarz genug. Ohne klare ethnische Identität wurden sie durch den Rauswurf zusätzlich entwurzelt: Die zerstörten Nachbarschaftsbande wurden durch Gangs ersetzt.
Es herrscht nirgendwo in Südafrika so eine Gangkultur wie in den Cape Flats. Die ältesten Gangs sind hundert Jahre alt. Mit dem Ende der Apartheid und der Isolation des Landes hat sich Kapstadt zur internationalen Drogendrehscheibe gewandelt. Die Gangs haben in der Folge ihre Macht ausgebaut und die Cape Flats in ihr Königreich verwandelt.
Täglich mehrere Dutzend Tote
In die Cape Flats wagt sich kein Aussenstehender. Filmen kann man höchstens zehn Minuten am Stück. Auch wenn man sich sicher wähnt – die Gangs haben ihre Späher überall. Sie sind Teil der Gemeinschaft, sie wohnen mittendrin. Viele Bewohner unterstützen sie, weil Gangführer ihnen in finanzieller Not helfen, weil sie selbst Drogen konsumieren und weil es keine Alternative gibt.
Die Mordrate in den Cape Flats ist beinah doppelt so hoch wie im restlichen Land. Innerhalb eines Jahres wurden nahezu 4000 Menschen getötet. An den Wochenenden, wenn der Alkohol fliesst, sterben manchmal bis zu 40 Menschen in einem der zahlreichen Kriege, die zwischen den dutzend oder mehr Gangs geführt werden.
Vom Gangster zum Pfarrer
Er hat auf seinem Handy die Nummern aller Gangster. Stanford Hill war selbst ein Drogenhändler und sass mehrere Jahre im Gefängnis. Seit er jedoch vor 18 Jahren zu Gott gefunden hat, ist er ein Pfarrer. Er versucht, zwischen den Gangführern zu schlichten. Für seinen Einsatz hat er auch schon einen Preis erhalten. Obschon sich die Cape Flats mittlerweile in ein Kriegsgebiet verwandelt haben, ist Hill überzeugt, dass er im Kleinen hat Gutes tun können. Doch er weiss auch, dass es Veränderungen im Grossen braucht, um das Gangübel auszurotten. Er verlangt Investitionen in die Gemeinschaft, Arbeitsplätze und menschenwürdige Wohnverhältnisse.
Von den Morden hört man in der Regel erst einen Tag danach. Doch Pfarrer Stanford Hill wurde informiert, dass soeben ein unschuldiger 20-jähriger Mann erschossen worden ist. Vor seinem eigenen Wohnblock, am helllichten Tag. Einfach so. Eine Gang hat ihn mit dem Mitglied einer rivalisierenden Gruppierung verwechselt. Diese zwei Wohnblöcke werden von drei Gangs kontrolliert, es braucht wenig, dass jemand seine Waffe zieht.
Die Angst vor den Gangs
Die Bewohner wollen nichts gesehen haben, sie fürchten sich, etwas zu sagen, erst recht vor der Kamera. Die Polizei markiert Präsenz und tut Dienst nach Vorschrift. Vor ihr hat niemand Angst. Denn in einer halben Stunde wird hier wieder der Alltag einkehren. Ein Gangsteralltag: Die Freunde des Ermordeten überlegten bereits, wie sie sich rächen können, erzählt Stanford Hill. «Wir sagen dem ‹das Blut aufnehmen›. Das Blut muss aufgenommen werden und gerade darum dreht sich die Gewaltspirale stets weiter.»
Die Polizei verhaftet immer wieder Gangmitglieder und konfisziert Waffen. Doch verurteilt werden lediglich zwei Prozent aller Verhafteten. Auch wer mordet, ist häufig nach Tagen oder Wochen wieder frei. Zudem ist die Polizei äusserst korrupt. Waffen, die sie an einem Ort konfisziert, verkauft sie an einem anderen Ort. Das Gleiche geschieht mit Drogen. Allein im Oktober letzten Jahres wurden im Westkap 37 Polizeibeamte wegen Korruption angeklagt.
Bekämpfung der Gewalt
JP Smith ist im Bürgermeisteramt für die Sicherheit zuständig. Die Stadt wird von der Demokratischen Allianz regiert, die nationalen Polizeitruppen werden jedoch von der ANC-Regierung kontrolliert. Der Konflikt ist programmiert. Smith wirft dem ANC vor, nichts in den Cape Flats zu machen, nicht mit der Stadt zusammenzuarbeiten. Dass die Regierung in diesem Jahr 1300 Soldaten in die Cape Flats abkommandierte, begrüsst er als Intervention. «Doch gebracht hat es wenig. Die Soldaten eskortieren lediglich die Polizei, statt Quartiere nach einem Vorfall abzuriegeln.»
Kapstadt habe beschlossen, die Gewalt selbst zu bekämpfen. Rund eine Million Schweizer Franken würden locker gemacht – nächstes Jahr würden 3000 zusätzliche Polizei- und Untersuchungsbeamte eingesetzt. Smith will eine eigene Kriminalabteilung aufbauen und die Daten, die jeder Fall mit sich bringt, besser vernetzen.
Die Frage, ob Kapstadt nicht jahrelang einfach weggeschaut und die Menschen im eigenen Hinterland ihrem Schicksal überlassen hat, macht ihn so wütend, dass er beinah das Interview abbricht. Doch, dass die Gangs so mächtig werden konnten, ist nur möglich, weil jahrelang niemand hinschaute – weder die Stadtbehörden noch die südafrikanische Regierung.