Der Himmel hängt grau über Moskau, es ist unangenehm kalt. Am Lubjanka-Platz haben sich dennoch hunderte Moskauerinnen und Moskauer versammelt. «Wir geben ihnen einen Namen» – das ist der Name der Veranstaltung. Und das ist das Prinzip: Jeder und jede liest einen Namen eines Repressionsopfers.
«Fjodor Platonowitsch Sotnikov. 56 Jahre alt. Brotverkäufer im Geschäft Nummer 1 des Presnja-Quartiers. Erschossen am 27. Juni 1938»; «Heinz Friedrichowitsch Roscher. 40 Jahre alt. Schweisser in den Stalin-Autowerken. Erschossen am 28. Mai 1938.» So geht das den ganzen Tag. Name für Name.
Ich will dem Staat zu verstehen geben, dass ich diese Verbrechen nicht vergessen habe.
Sowjetdiktator Stalin liess in den 30er- und 40er-Jahren Millionen von Menschen verhaften, über eine Million wurde umgebracht. Genaue Zahlen sind umstritten. Fest steht aber: Der Terror Stalins hat die Sowjetunion geprägt – und die Erinnerung daran ist in Russland immer noch schmerzhaft.
Viktor, ein Mann um die 60, ist auf den Lubjanka-Platz gekommen, um seiner Verwandten zu gedenken. «Sie wurden 1943 nach Sibirien in die Verbannung geschickt. Ich empfinde es als meine Pflicht, hier zu sein. Und ich will dem Staat zu verstehen geben, dass ich diese Verbrechen nicht vergessen habe.»
Früher Stalins Schergen, heute Putins Spione
Auch Galina ist aus familiären Gründen gekommen. Ihre Grossmutter war aber nicht Opfer des Terrors, sondern Täterin: «Meine Grossmutter hat an diesem schrecklichen Ort gearbeitet», sagt Galina und zeigt auf das Lubjanka-Gebäude, das Hauptquartier des Inlandsgeheimdienstes FSB. In dem monströsen Klotz hatten schon Stalins Schergen ihre Büros. Heute sitzt hier eine Organisation, die wieder Teil des Repressionsapparats ist.
Der russische Staat hat die Verbrechen, die er an seinen eigenen Bürgern begangen hat, nie richtig aufgearbeitet. Im Gegenteil: In den letzten Jahren ist Stalin eher rehabilitiert worden. Der Kreml versucht, die Erinnerung an den Diktator positiv aufzuladen – mit dem Sieg im Zweiten Weltkrieg.
Gedenken abseits der Öffentlichkeit
Um das Gedenken an die Opfer kümmert sich dagegen die private Menschenrechtsorganisation Memorial. Sie hat auch den heutigen Gedenktag organisiert. Dieses Jahr gab es allerdings grössere Probleme. Erst wollte die Stadtregierung keine Bewilligung erteilen – wegen Bauarbeiten vor Ort. Dann gab's eine Bewilligung – aber auch eine Überraschung, wie Alexandra Polivanova von Memorial erzählt: «Als wir herkamen, haben wir gesehen: Der Platz ist hinter einem blickdichten Zaun. Passanten von ausserhalb sehen nicht, was wir hier tun – und die Leute hier drin fühlen sich ein bisschen wie hinter Stacheldraht.»
Für die Staatsmacht ist diese bescheuerte Baustelle hier wichtiger als das Gedenken an die Stalin-Opfer.
Dazu kommt ein Presslufthammer, der den ganzen Morgen über lärmt. Will die Staatsmacht das Gedenken an die Stalin-Opfer verhindern? Soweit würde Polivanova von Memorial nicht gehen. Sie wisse nicht, ob diese Baustelle absichtlich so gelegt wurde, dass sie am 29. Oktober störe. «Aber es ist offenkundig: Für die Staatsmacht ist diese bescheuerte Baustelle hier wichtiger als das Gedenken an die Stalin-Opfer.»