Brennende Lastwagen auf den Strassen, Schiessereien in Gassen und ein Flughafen unter Beschuss. Im Nordwesten von Mexiko eskaliert die Situation nach der Festnahme von Ovidio Guzmán, dem Sohn des berühmt-berüchtigten Drogenbosses «El Chapo» Guzmán. Es gab mindestens 29 Tote und mehrere Verletzte.
«Die Bilder aus Mexiko gleichen einem Bürgerkrieg», sagt Anne Huffschmid. Sie ist Kulturwissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit Gewalt und der Menschenrechtslage in Lateinamerika beschäftigt. Mit der Verhaftung sei dem mexikanischen Staat ein empfindlicher Schlag gegen das Sinaloa-Kartell gelungen, erklärt sie den heftigen Gewaltausbruch.
Bis zu seiner Verhaftung war Ovidio Guzmán eine zentrale Figur im Kartell. Sein Vater «El Chapo» hatte ihn ins Geschäft eingeführt. «El Chapo» selbst wurde 2016 verhaftet, an die USA ausgeliefert und dort zu lebenslanger Haft verurteilt. «Sein Imperium hat seine Familie natürlich weiterbetrieben», sagt Huffschmid. Zusammen mit seinen Brüdern führte Ovidio Guzmán die Geschäfte weiter.
Verhaftung schwächt Kartell kaum
Eigentlich seien Experten davon ausgegangen, dass das Kartell nach der Verhaftung von «El Chapo» 2016 in sich zusammenfällt, sagt Anne-Katrin Mellmann, frühere ARD-Korrespondentin in Mexiko. «Das ist nicht passiert.» Stattdessen hätten sich innerhalb des Kartells vier Untergruppen gebildet.
Eine dieser vier Gruppen hat Ovidio Guzmán mit seinen drei Brüdern geführt. «Es ist davon auszugehen, dass die Macht des Kartells nicht gebrochen ist mit dieser Verhaftung», sagt Mellmann. Das Sinaloa-Kartell sei und bleibe mächtig.
Drogen, Raub und Erpressung
Gemäss Schätzungen nimmt das Kartell jedes Jahr mehrere Milliarden Dollar ein. Dabei fusst die Macht nicht nur auf dem Drogengeschäft. «Das Sinaloa-Kartell war traditionell schon auf Drogen spezialisiert, nach und nach kamen auch andere Dinge hinzu», sagt Mellmann. Somit ist es in verschiedenen Zweigen der organisierten Kriminalität tätig: Drogen, Schutzgelderpressung, Entführungen und Raubüberfälle.
Der ganze mexikanische Staat ist inzwischen unterwandert von der organisierten Kriminalität
Diese Geschäfte dürften wohl weitergehen – auch ohne den nun gefassten Ovidio Guzmán. Dabei sei das Timing der Festnahme kein Zufall, sagt Kulturwissenschaftlerin Huffschmid. Denn in der kommenden Woche steht in Mexiko ein wichtiger Termin an. US-Präsident Joe Biden, Kanadas Regierungschef Justin Trudeau und der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador treffen sich am sogenannten Nordamerika-Gipfel.
Mexiko wolle mit der Verhaftung signalisieren, dass es den Kartellen entschieden entgegentritt, schätzt Anna Huffschmid. «Es scheint ein dringendes Bedürfnis nach einer Erfolgsmeldung zu geben.». Es habe wohl eine monatelange Recherche des Geheimdienstes gegeben, die jetzt punktgenau mit dem Zugriff geendet habe, vermutet Huffschmid. Dabei hätten die längst die erneute Verhaftung von Ovidio Guzmán gefordert.
Mexiko lagert Prozesse aus
Huffschmid findet es bedauerlich, dass Mexiko opportunistisch erst auf Druck der USA reagiert und nicht aus eigenem Interesse gegen die Kartelle vorgeht. Bezeichnend sei, dass die Prozesse gegen die Kartellbosse in den USA stattfinden und nicht in Mexiko. Das Land lagere die Prozesse aus, weil ein ganzes Netz an Korruption und Verstrickungen besteht. Mellmann sagt dazu: «Der ganze mexikanische Staat ist inzwischen unterwandert von der organisierten Kriminalität.»