Menschen, die auf leere Kochtöpfe klopfen, brennende Autoreifen: Trotz der Ansteckungsgefahr protestieren immer mehr Menschen auf den Strassen der armen Vororte von Chiles Hauptstadt Santiago. Nicht gegen die Quarantäne, sondern gegen den Hunger. Doch der Staat schickt oft statt Nahrungsmitteln die Polizei.
2.5 Millionen Kisten mit Lebensmitteln hat die Regierung im Mai versprochen, doch die Verteilung geht nur langsam voran. In einigen Vierteln haben sich die Nachbarn deshalb zusammengeschlossen: Sie sammeln Lebensmittel und kochen gemeinsam.
Etwa in Lo Hermida, im Südosten der Hauptstadt. Felix Alberto schneidet Kürbisse und Kartoffeln. Mehr als 200 Menschen haben sich für heute in die Liste eingetragen. «Die meisten hier haben ihre Arbeit verloren», erklärt Alberto, vor der Krise lieferte er als Selbstständiger Sandwiches an Event-Veranstalter. «Ich verstehe nicht, warum die Regierung nicht einfach einen kleinen Betrag aufs Konto überweist, damit die Menschen wenigstens etwas zum Essen haben. Viele hungern.»
Angst vor Jobverlust
Das Ziel der Solidaritätsaktion: Auch jenen eine Quarantäne ermöglichen, die es sich nicht leisten können, zuhause zu bleiben. Eine Studie der Ärztekammer und mehrerer Universitäten zeigt: 15 Prozent der Chilenen, die bereits eine Covid-19-Diagnose haben, gehen dennoch arbeiten und benutzen mindestens einmal pro Woche ein öffentliches Verkehrsmittel. Das Gleiche gilt für 36 Prozent derer, die noch nicht getestet wurden, aber Symptome verspüren. Einer der möglichen Gründe ist die grosse Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren.
«Wir brauchen endlich eine effiziente Quarantäne, diese wurde im März von der Ärztekammer empfohlen und erst im Mai, zwei Monate später, umgesetzt», sagt der Arzt Mauricio González. «Aber dafür braucht es auch eine sozial abgesicherte Bevölkerung, dafür wurde nicht ausreichend gesorgt. Ich kann von niemandem verlangen, zuhause zu bleiben, wenn er nichts zu essen hat.»
Die Situation sei dramatisch, 96 Prozent der Spitalbetten im Grossraum Santiago seien bereits belegt. «Wir Ärzte stehen schon heute immer wieder vor der Entscheidung: Wen können wir behandeln, wen nicht?» berichtet González. Er fordert ein Umdenken im Gesundheitswesen: «Das öffentliche System wurde in den letzten Jahrzehnten immer mehr geschwächt.»
Quarantäne-Konzept gescheitert
Als Präsident Sebastian Piñera letzte Woche Änderungen im Kabinett ankündigte, hatten viele auf einen Wechsel im Gesundheitsministerium gehofft. Denn das Konzept einer selektiven Quarantäne, an dem Chile zu Beginn der Krise lange festhielt, ist gescheitert, das zeigen die Fallzahlen klar.
Der Gesundheitsminister glänzt zudem durch einen Fauxpas nach dem anderen: Er zählte in einer Ansprache die Zahl der Corona-Toten und Genesenen zusammen in der Kategorie «recuperados» («Erholte»), denn auch Tote seien ja nicht mehr ansteckend.
Und Ende Mai präsentierte er den Medien angeblich neu importierte Beatmungsgeräte, doch das Flughafenpersonal liess durchsickern, dass alles nur eine Show gewesen sein soll: Die Geräte seien mit einem Lastwagen angeliefert worden, nicht mit dem Flugzeug.
Zu den hohen Ansteckungsraten in einigen Gegenden der Hauptstadtregion Santiago befragt, sagte der Minister: Er habe nicht gewusst, wie viele Menschen dort arm seien und wie zusammengepfercht sie dort wohnten.