Das Coronavirus kam später in Südamerika an als in Europa. Droht den Ländern eine Entwicklung wie zuvor einigen bei uns?
SRF News: Wie entwickelt sich die Situation auf dem Kontinent?
Karen Naundorf: Die Angst ist überall die gleiche: Die öffentlichen Gesundheitssysteme sind chronisch unterfinanziert und überfordert. In Armenvierteln leben Menschen auf engem Raum zusammen, oft ohne fliessendes Wasser. Distanz halten, Hände waschen und zu Hause bleiben ist dort unmöglich. Dass viele von der Hand in den Mund leben, nimmt den Staat in die Pflicht – sonst ist die Situation: «Entweder ich sterbe an Corona oder an Hunger.» In den meisten Ländern fehlt es jedoch am Geld für Unterstützungen und oft auch am politischen Willen.
Im stark betroffenen Brasilien tobt ein Streit zwischen Präsident und Gouverneuren. Worum geht es?
Die Zahl der Infizierten dürfte weit über den offiziellen Zahlen liegen. Präsident Bolsonaro betont dennoch: Die Folgen eines Shutdowns wären schlimmer als das Virus. Er schüttelt Hände, mischt sich unters Volk. Das hat zu der absurden Situation geführt, dass Gouverneure und Bürgermeister die Menschen gebeten haben, zu Hause zu bleiben und nicht auf den Präsidenten zu hören. Anfang dieser Woche hat Bolsonaro beschlossen, dass Fitness- und Nagelstudios sowie Friseursalons zu den «essenziellen Dienstleistungen» gehören und nun wieder öffnen dürfen. Das werden die meisten Gouverneure wohl nicht zulassen, und damit ist der nächste Streit vorprogrammiert.
Ein Problem ist auch eine gewisse Quarantäne-Müdigkeit: Immer mehr Menschen gehen trotz Verboten auf die Strasse und Freunde besuchen
Trotzdem haben einige Länder Restriktionen abgebaut oder dies zumindest zeitnah angekündigt. Weshalb?
Die Regierungen stehen mit dem Rücken zur Wand: Sie müssen die Ausbreitung des Virus eindämmen, gleichzeitig einen grossen Teil ihrer Bevölkerung vor dem Verhungern schützen und einen Zusammenbruch der Wirtschaft verhindern. Wenn Argentinien seinen Bürgern monatliche Hilfen verspricht, stellt sich die Frage: Wie lange kann der Staat dies finanzieren? Kredite sind für Schwellenländer teuer, die Kapitalflucht wächst und die Währungen geraten ins Wanken. Für die Regierungen wird es immer schwieriger, an frisches Geld zu kommen. Deshalb wird dort, wo die Fallzahlen zurückgehen oder ohnehin gering waren, schnell reagiert. Ein Problem ist auch eine gewisse Quarantäne-Müdigkeit: Immer mehr Menschen gehen trotz Verboten auf die Strasse und Freunde besuchen. Experten warnen, dies könnte den bisherigen Erfolg aufs Spiel setzen.
Die Pandemie ist eine gesundheitliche Krise. Was sind die wirtschaftlichen Auswirkungen für die südamerikanische Bevölkerung?
Die Armutsziffern dürften steigen, genau wie die Arbeitslosigkeit. Die Pandemie wird zudem die Ungleichheit in allen Ländern vertiefen. Gerade jene, die informell beschäftigt sind, haben vom ersten Tag der Quarantäne an ihr Einkommen verloren: Putzfrauen, Bauarbeiter oder fliegende Händler. Ihre Kinder können oft nicht am Fernunterricht teilnehmen. Das Virus kam mit jenen ins Land, die sich Reisen leisten konnten – auch sie leiden natürlich unter der Krise. Doch massiv betroffen sein werden die Menschen in den Armenvierteln. Etwa in der Villa 31 im Zentrum von Buenos Aires, dort waren letzte Woche 67 Prozent der Corona-Tests positiv. Dazu kommt: In den Ländern im Süden des Kontinents wird es bald Winter und die Grippe-Zeit beginnt. Die Coronakrise in Südamerika steht erst am Anfang.
Das Gespräch führte Luca Froelicher.