Seinen Krieg gegen die Ukraine hat der russische Präsident Wladimir Putin in mehreren Wutreden begründet. Die Ukraine sei ein Land voller Nazis mit «drogenabhängigen Banditen» an der Spitze.
Putin prangert auch die Nato an. Diese habe der Ukraine die Aufnahme in Aussicht gestellt, trotz ihres Versprechens, sich «nicht einen Zentimeter Richtung Osten» auszuweiten. Bereits mit der Aufnahme des Baltikums, Polens und anderer Oststaaten sei Russland «betrogen» worden.
Die Gründe, die Putin angibt, rechtfertigen keinen Krieg, schon gar nicht einen so brutalen wie jenen gegen die Ukraine. Zumal in der Vergangenheit gerade Putin darauf hingewiesen hatte, dass kein Staat das Recht hat, einen anderen anzugreifen, weil ihm die dortige Regierung nicht passt oder weil er sich betrogen fühlt.
Kritik an der Nato-Osterweiterung gibt es freilich auch im Westen. Bereits 1997 warnte der ehemalige US-Diplomat George F. Kennan die Nato vor der Aufnahme neuer Mitgliedstaaten. Damit würden «militaristische Tendenzen» befördert. Und ähnlich tönte es vor wenigen Tagen von Papst Franziskus.
Das Bollwerk des Westens
Wer die heutigen Spannungen verstehen will, muss weit in die Geschichte zurückblicken. Kaum endet 1945 der Zweite Weltkrieg, kommt es zwischen den beiden Siegermächten USA und Sowjetunion zu einem neuen Konflikt: dem Kalten Krieg zwischen Ost und West.
Im Westen schliessen sich 12 Staaten unter Führung von US-Präsident Harry S. Truman zum Verteidigungsbündnis Nato zusammen. Die Staaten versprechen sich gegenseitig militärischen Beistand, sollte einer von ihnen angegriffen werden. Und zwar vom Hauptfeind im Osten, der Sowjetunion unter Diktator Josef Stalin. Mit sieben weiteren Staaten formt diese ihrerseits ein Militärbündnis, den Warschauer Pakt.
Der Sowjetblock zerfällt
Der Ostblock beginnt in den 1980er-Jahren an seinen eigenen Problemen zu zerbrechen. 1989 fällt die Berliner Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland, Deutschland will sich wiedervereinigen.Doch es gibt ein Problem: Westdeutschland gehört zur Nato, Ostdeutschland zum Warschauer Pakt. Die USA wollen, dass ganz Deutschland Teil der Nato wird. Die Sowjetunion ist bereit, darüber zu sprechen. Es sind insbesondere diese Gespräche, vor mehr als 30 Jahren, mit denen Putin seinen Betrugsvorwurf begründet.
1990 und 1991 trifft sich die sowjetische Führung unter Generalsekretär Michail Gorbatschow mehrmals mit westlichen Politikern, es geht auch um die Zukunft der Nato. In vertraulichen Gesprächen wird Gorbatschow in Aussicht gestellt, dass sich die Nato über das wiedervereinigte Deutschland hinaus nicht weiter Richtung Osten erweitern werde – «keinen Zentimeter» in den Worten des amerikanischen Aussenministers James Baker. Die Gesprächs-Transkripte sind mittlerweile veröffentlicht und hier einsehbar.
Nada Boškovska ist Professorin für osteuropäische Geschichte und sieht die Nato-Osterweiterung kritisch, hält Putins Darstellung jedoch für überzogen. Schliesslich gebe es unter den damals 16 Nato-Staaten, allesamt Demokratien, unterschiedliche Positionen, niemand spricht für die Nato als Ganzes: «Das ist wahrscheinlich das, was Gorbatschow zu wenig verstanden hat.».
Vor allem aber versäumt es Gorbatschow, sich verbindliche Zusagen geben zu lassen, einen Vertrag einzufordern. Gorbatschow sei «überfordert» gewesen, sagt Boškovska, habe dem Westen vielleicht auch zeigen wollen, dass er die «misstrauische Art von früher», aus dunklen Sowjetzeiten, abgelegt habe.
Der Drang der Oststaaten in die Nato
Es bleibt also bei mündlichen Aussagen einzelner Politiker hinter verschlossenen Türen. Und kurz nach den Gesprächen verändert sich die Welt dramatisch. 1991 bricht die Sowjetunion zusammen, Gorbatschow tritt ab, der Warschauer Pakt löst sich auf.
Nachfolgestaat der Sowjetunion wird Russland, und die ehemaligen Verbündeten gehen auf Distanz. Die neuen demokratisch gewählten Regierungen von Ländern wie Polen oder Ungarn sehen die Sowjetzeit als Zeit der Unterdrückung und drängen in die Nato – als Versicherung gegen neue grossrussische Ambitionen.
Seit der Wiedererlangung der Souveränität Polens 1989 war es unser Wille sich dieser Gemeinschaft anzuschliessen.
Putins Vorgänger Boris Jelzin bringt 1991 einen Nato-Beitritt Russlands in Spiel. Doch US-Präsident Bill Clinton fordert als Bedingung grundlegende Reformen des russischen Polit- und Wirtschaftssystems. Worauf Jelzin das Beitrittsziel nicht weiterverfolgt und stattdessen «eine Art Kartell zwischen USA, Europa und Russland» vorschlägt, um die Weltsicherheit zu gewährleisten.
Jedenfalls bringt der Zusammenbruch des Ostblocks die Nato in ein Dilemma. Aus Furcht davor, Russland zu provozieren, gibt es in den Mitgliedstaaten grosse Vorbehalte gegen die Aufnahme neuer Mitglieder. Gleichzeitig aber will man die beitrittswilligen Staaten nicht vergraulen.
Die Nato unterzeichnet mit Jelzin die sogenannte Nato-Russland-Grundakte. Darin verpflichtet sich die Nato, in den neuen Mitgliedstaaten keine Atomwaffen zu stationieren. Russland bekennt sich seinerseits zu einem Grundprinzip des internationalen Rechts: dass jeder Staat frei entscheiden kann, welchem Bündnis er angehört.
Und damit beginnt die Nato-Osterweiterung. 1999 treten als erste Staaten Polen, Tschechien, Ungarn dem Bündnis bei, später folgen elf weitere.
Im Jahr 2000 wird Wladimir Putin russischer Präsident. Zu Beginn seiner Amtszeit äussert er sich widersprüchlich über die Nato-Osterweiterung. Bei einem Treffen mit dem deutschen Bundeskanzler Gerhard Schröder 2004 sagt Putin, er sei zwar «besorgt», aber mit Blick auf Russlands Sicherheit gebe es «keine Befürchtungen».
Falsche Hoffnungen?
Vier Jahre später beraten die Nato-Staaten an einem Gipfel in Bukarest die Aufnahme der Ukraine. Während die USA und osteuropäische Staaten einen raschen Beitritt befürworten, haben Deutschland und Frankreich Vorbehalte. Der Kompromiss: eine unverbindliche Beitrittseinladung ohne Zeitplan.
«Die Nato hätte sich das besser überlegen sollen, ist das wirklich die richtige Strategie?», kritisiert Boškovska: «Hier hätte der Westen auch ein Zeichen setzen können und Russland gegenüber klar machen, dass die Nato seine Bedenken ernst nimmt.» Zumal damals die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer gar nicht für einen Beitritt gewesen seien.
Andere Expertinnen und Experten vertreten die umgekehrte Schlussfolgerung: Die Nato hätte die Ukraine, wie von den USA gefordert, möglichst rasch aufnehmen sollen, um sie vor Putin zu schützen.
Die unterschiedlichen Einschätzungen zeigen, dass der Zerfall der Sowjetunion die Nato vor schwierige Herausforderungen gestellt hat. Im Westen wie im Osten wurden falsche Hoffnungen geweckt und zweideutige Ansagen gemacht.
Russlands Krieg gegen die Ukraine ist freilich nicht nur von A bis Z illegal, er ist gemessen an Putins selbsterklärten Zielen vor allem auch kontraproduktiv: Die 30 Nato-Staaten sind geeint wie kaum je zuvor, und schon in den kommenden Wochen dürften auch Schweden und Finnland Beitrittsverhandlungen aufnehmen – aus Angst vor einem Angriff wie jenem gegen die Ukraine.