Der Krieg hat jeden Bereich der israelischen Gesellschaft erfasst. Ein Gespräch mit einem Psychologen über die Betroffenheit, den gestiegenen Rassismus und die Zukunft.
SRF News: Wie steht die israelische Bevölkerung diesem Krieg gegenüber?
Eran Halperin: Erstens fühlte sich die Mehrheit der israelischen Bevölkerung nach dem 7. Oktober zum ersten Mal existenziell bedroht – in Bezug auf Freunde und Familie, aber auch als Kollektiv. Zweitens ist die Trauer riesengross. Israel ist ein kleines Land: Alle kennen jemanden, der entweder getötet oder verschleppt wurde oder jetzt im Militär dient.
Der Kontrollverlust, den die Israelis am 7. Oktober gefühlt haben, führt sie dazu, fast jede Handlung zu unterstützen, um die Kontrolle und Macht zurückzubekommen.
Über den dritten Punkt sprechen viele nicht gern. Viele Menschen haben sich am 7. Oktober gedemütigt gefühlt. Sie waren stolz, eine hochtechnologisierte Gesellschaft mit der besten Armee im Nahen Osten zu sein. Und plötzlich hat uns die relativ kleine Terrororganisation Hamas eine Lektion erteilt. Die Kombination aus alledem führt zur Reaktion der israelischen Bevölkerung.
Zu welcher?
Viele wollen sichergehen, dass so etwas nie wieder passiert. Wenn man einen solch furchtbaren Verlust erleidet und sich so sehr fürchtet, spürt man das, was wir «moralische Lizenzierung» nennen. Man ist bereit zu tun, was immer nötig ist, damit einem so etwas Schlimmes nie mehr widerfährt. Dann kümmert man sich nicht mehr um Moralvorstellungen. Wenn Menschen sich gedemütigt fühlen, wollen sie ihr positives Selbstwertgefühl zurückgewinnen. Der Kontrollverlust, den die Israelis am 7. Oktober gefühlt haben, führt sie dazu, fast jede Handlung zu unterstützen, um die Kontrolle und Macht zurückzubekommen.
Haben sich denn die politischen Ansichten nach dem 7. Oktober verändert?
Was Sie gerade in Israel sehen – und übrigens sehen wir das sehr ähnlich auf der palästinensischen Seite – sieht man in Gesellschaften oft nach einem kollektiven Trauma. Zuerst ist das Phänomen «Rally around the flag» zu beobachten. Die Menschen werden viel kriegerischer, viel rechtsgerichteter. Sie gehen davon aus, dass alle auf der Gegenseite gleich sind. Also etwa: Alle Palästinenser sind Hamas-Unterstützer. Das ist eine sehr natürliche Reaktion auf Verlust und Angst.
In solch herausfordernden Situationen bleibt kein Platz für Komplexität.
Wie könnte das denn weitergehen?
Etwas längerfristig wird die eigene Haltung jeweils neu bewertet. Menschen überdenken ihre Positionen. Deshalb kommt es ein bis zwei Jahre nach traumatischen Ereignissen oft zu Friedensverhandlungen. Wir sehen in unseren Untersuchungen, dass Hass und Rassismus in Israel dramatisch angestiegen sind. Aber ehrlich gesagt wäre ich auch überrascht gewesen, wenn die Reaktion eine andere gewesen wäre. Ich gehe davon aus, dass sich das rasch mässigt, sobald die Gewaltspirale aufhört zu drehen. Möglicherweise wird es in der israelischen Gesellschaft dann auch wieder versöhnlichere Reaktionen geben.
Wie erklären Sie sich, dass die Ansichten zum Gaza-Krieg in und ausserhalb Israels so weit auseinandergehen?
Für die meisten Israelis gibt es die Bösen, die Hamas, und auf der anderen Seite die Guten, die unschuldigen Menschen in Israel, die von der Hamas massakriert werden. In solch herausfordernden Situationen bleibt kein Platz für Komplexität. Dasselbe kann man aber auch über die vielen Menschen ausserhalb Israels sagen: Auf der einen Seite steht das starke Israel, auf der anderen die schwachen Palästinenser. Komplexität anzuerkennen wäre etwa, zu sagen: Besetzung ist furchtbar und dagegen muss man etwas tun – gleichzeitig waren die Taten der Hamas Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die wir in jeder Form verurteilen müssen. Beiden Seiten, Israel und der Rest der Welt, erkennen diese Komplexität aber nicht an.
Das Gespräch führte Luca Laube.