Das Regime von Präsident Abdel Fattah Al-Sisi geht wenig zimperlich um mit der politischen Opposition in Ägypten. Aber auch Menschenrechtsorganisationen sind im Fokus der Behörden. Zum Beispiel die Aktivistin Mozn Hassan. Ein Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Betreuung und Unterstützung von Frauen, die Opfer von sexueller Belästigung und Gewalt wurden. Gemäss Umfragen erleben fast 60 Prozent aller Frauen in Ägypten Gewalt und Diskriminierung – im öffentlichen Raum, aber auch zu Hause.
SRF News: Warum ist sexueller Missbrauch in Ägypten so weit verbreitet?
Mozn Hassan: Dies ist ein internationales Phänomen. Im Nahen Osten und auch in Ägypten ist die Situation aber schwieriger. Denn über sexuelle Gewalt gegen Frauen wird nicht geredet. Diese Taten werden in weiten Teilen der Gesellschaft einfach so hingenommen.
Täter werden kaum je juristisch verfolgt.
Und das Verhalten der Täter wird bisweilen sogar gerechtfertigt, aus kulturellen Gründen oder wegen des vorherrschenden patriarchalen Systems. Niemand fühlt sich verantwortlich. Täter müssen nicht befürchten, stigmatisiert zu werden, weil sie kaum je juristisch verfolgt oder von der Gesellschaft verurteilt werden.
2011, während der grossen Demonstrationen, die schliesslich zum Sturz von Hosni Mubarak führten, erlebte Ägypten eine richtiggehende Welle von sexueller Gewalt gegen Frauen. Warum kam es gerade damals zu einem Anstieg von solchen Taten?
Während der Revolution waren sehr viele Menschen – vor allem auch viel mehr Frauen – im öffentlichen Raum als vorher. Gleichzeitig hat sich die Polizei zurückgezogen. Dadurch entstanden quasi rechtsfreie Räume; Gewalt im öffentlichen Raum nahm zu. Wenn es keine Regeln mehr gibt und die Gewalt sich normalisiert, leiden darunter vor allem Frauen und Mädchen. Aber auch Schwule, Lesben und andere Minderheiten.
Gemäss der ägyptischen Verfassung sind Männer und Frauen in Ägypten gleichberechtigt, gesellschaftlich, kulturell, politisch und wirtschaftlich. Sind diese gleichen Rechte im Alltag gewährleistet?
Natürlich nicht. Wir leben in einer nicht-demokratischen Gesellschaft. Seit vielen Jahren herrscht eine Diktatur. Hinzu verhindert der Sicherheitsapparat, dass sich die Menschen frei äussern können. Die Verfassung wurde damals unter grossem Druck der Demokratiebewegung nach dem Arabischen Frühling geschrieben. Sie ist breit akzeptiert. Aber sie wird nicht umgesetzt. Dafür fehlt der politische Wille.
Frauen sind in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens noch immer ausgeschlossen.
Frauen sind in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens noch immer ausgeschlossen. Dabei gibt es so viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Probleme im Land. Die Regierung kann diese nicht alle alleine lösen, sie braucht uns Frauen.
Wie frei können Sie heute in Ägypten arbeiten?
Das kommt darauf an, wie Sie frei definieren. Es war eine sehr schwierige Zeit mit dieser Kampagne gegen Regierungskritiker. Für uns Feministinnen war es besonders schwierig, weil der Staat unsere Anliegen nicht anerkannte. Wir wurden öffentlich als «schlechte Frauen» bezeichnet und verunglimpft. Es ist deswegen schwierig, andere Frauen davon zu überzeugen, dass unsere Anliegen auch ihre Anliegen sind.
Noch immer können die meisten Organisationen der Zivilgesellschaft nicht frei in der Öffentlichkeit operieren, ohne Angst im Gefängnis zu landen.
Jetzt gibt es in Ägypten diesen nationalen Dialog, die Situation sollte sich verbessern. Aber noch immer können die meisten Organisationen der Zivilgesellschaft nicht frei in der Öffentlichkeit operieren, ohne Angst im Gefängnis zu landen. Staat und Regierung müssen erkennen, dass wir nur vorwärtskommen, wenn die Frauen nicht weiterhin vom öffentlichen Leben ausgeschlossen werden.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.