Nach der Vergewaltigung und dem Mord an einer jungen Tierärztin in Indien haben Polizisten die mutmasslichen Täter bei einer Tatortbegehung erschossen. Die genauen Umstände sind unklar. Doch die Polizisten werden nun als Helden gefeiert.
Laut einer Statistik kommt es in Indien zu 90 Vergewaltigungen am Tag – die Dunkelziffer dürfte noch viel höher liegen. Die Menschen sind seit dem Mord an der jungen Frau wieder auf den Strassen: Sie fordern Lynchjustiz oder die Kastration von Vergewaltigern, berichtet die Journalistin Silke Diettrich.
SRF News: Wie breit ist die Unterstützung für solch radikale Vorschläge wie etwa Lynchjustiz?
Silke Diettrich: Das kommt in der Bevölkerung richtig gut an. Ich war diese Woche auf einer Demonstration in Neu-Delhi. Wieder einmal sind im ganzen Land Menschen auf die Strasse gegangen, weil die Woche zuvor eine junge Tierärztin von einer Gruppe vergewaltigt und getötet wurde. Die Leute haben im Chor gerufen: «Erhängt die Täter, so schnell wie möglich!»
Wie aufgeheizt ist die Stimmung?
Sehr. Der Fall der ermordeten Tierärztin ist auf allen lokalen TV-Kanälen Breaking News. Die vier angeklagten Männer, die im Gefängnis sassen, wurden heute Morgen durch die Polizei erschossen. Die Polizei sagt, sie wollte die Angeklagten zum Tatort bringen, als diese versucht hätten, zu fliehen.
Auch Politiker bedankten sich bei den Polizisten für die Erschiessung der Angeklagten.
Das Wahnsinnige daran ist, dass die sozialen Netzwerke nun voll von Gratulationen an die Polizisten sind. Auch Politiker bedankten sich bei ihnen und fanden, andere sollten sich ein Beispiel daran nehmen. Man darf der Polizei nicht unterstellen, dass sie die mutmasslichen Täter mit Vorsatz erschossen hat, aber die Geschichte ist schon komisch. Man hätte ihnen auch in die Beine schiessen können.
Eine TV-Moderatorin fragte während einer Sendung unter Tränen, wie lange sie solche Meldungen noch erzählen müsse, bis sich etwas ändert. Hat sich in den letzten Jahren nichts getan?
Nach der international bekannt gewordenen Gruppenvergewaltigung vor sieben Jahren, als eine Studentin in einem Bus vergewaltigt wurde, wurde die Todesstrafe für Vergewaltiger eingeführt. Aber die Justiz ist sehr langsam, darum kocht das Thema auch so oft hoch. Die meisten verurteilten Vergewaltiger der Studentin sitzen noch immer im Todestrakt.
Warum sind Vergewaltigungen ein so grosses Problem?
Es ist in Indien ein Schandfleck, wenn jemand aus der Familie jemanden vergewaltigt. Aber es ist noch ein viel grösserer Schandfleck für die Opfer. Es liegt in der Tradition, dass Frauen hier weniger wert sind als Männer. Wird eine Tochter geboren, ist das ein Stigma für die Familie, denn sie müssen – obwohl das gesetzlich verboten ist – eine Mitgift mitgeben. Viele weibliche Föten werden nach wie vor abgetrieben.
Ein Sprichwort in Indien lautet: «Eine Tochter grosszuziehen, ist wie die Blumen deines Nachbarn zu giessen». Du hast jemanden zu Hause, der eine Last ist. Es gibt in Indien auch den Mädchennamen Nakusa, was übersetzt so viel wie «ungewollt» bedeutet. All das kann dazu führen, dass Männer denken, die Frauen, die kann ich mir einfach nehmen.
Wie wahrscheinlich ist es, dass sich jetzt etwas ändert?
Die Frage ist, was sich noch ändern soll. Die Gesetzeslage ist da, Vergewaltiger werden zum Tod verurteilt. Urteile könnten aber schneller vollstreckt werden. Die Politiker scheinen sich ja genauso ohnmächtig zu fühlen. Abschreckung alleine scheint nichts zu ändern. Viele Frauen fordern deshalb: Blickt auf die Opfer, nicht auf die Täter.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy.