Täglich werden in Indien Frauen vergewaltigt. Lange haben Familien aus Scham geschwiegen. Der Staat reagierte mit Gleichgültigkeit. Bis in die Schweiz hat etwa ein Fall von sexueller Gewalt Wellen geschlagen, als 2012 eine junge Frau in einem Bus in Neu Delhi so brutal vergewaltigt wurde, dass sie an ihren Verletzungen starb. Vier der sechs Täter wurden später zum Tode verurteilt.
Die Inderin Japleen Pasricha ist Frauenrechtlerin und Chefredaktorin der Website Feminism-in-India. Sie beschäftigt sich intensiv mit dem Thema.
SRF News: Was hat die brutale Vergewaltigung von 2012 in Indien ausgelöst?
Japleen Pasricha: Es gab ein paar Veränderungen. Die wichtigste: Man hat das Strafrecht auf Empfehlung einer Kommission angepasst. Was rechtlich als Vergewaltigung gilt, wurde weiter gefasst. Und auch Cyber-Stalking ist jetzt strafbar. Das ist zu begrüssen. Eine andere Veränderung: Die sexuelle Gewalt gegen Frauen ist zu einem Thema in der Öffentlichkeit und in den Medien geworden. Es hat sich auch verändert, wie über Vergewaltigungen berichtet wird. Früher wurden die Opfer verantwortlich gemacht. Es hiess, die Frauen seien zu lange im Ausgang gewesen oder hätten einen zu kurzen Rock getragen, deshalb seien sie vergewaltigt worden. Das liest man heute weniger.
Hat der Fall auch die Gesellschaft verändert?
Die Menschen in Indien reagieren anders auf Meldungen über Vergewaltigungen. Sie reden nun offen darüber, sogar am Familientisch, und die Menschen realisieren, dass nicht die Frauen, sondern die Vergewaltiger die Schuldigen sind. Es gibt ein grösseres Bewusstsein für sexuelle Gewalt in Indien. Was heute ebenfalls besser ist: Die betroffenen Frauen machen bei der Polizei eine Anzeige. Die Zahl der Anzeigen steigt daher an – nicht, weil mehr Fälle passieren, aber weil mehr Meldungen eingehen. Das Stigma und die Schande sind nicht mehr so gross. Die Frauen erkennen, dass es um die Gerechtigkeit geht, dass es nicht ihre Schuld ist.
Was ist der wichtigste Grund für die Frauenfeindlichkeit in Indien?
Einige Dinge sind sehr spezifisch für die Kultur in Indien. Es geht um Tabus und Stigmata. Die Ehre einer Familie und eines Mannes ist direkt verbunden mit den Körperteilen der Frau, mit der Vagina, um die Sache beim Namen zu nennen. Wenn die Tochter einer Familie vergewaltigt wird, sagt die Familie, unsere Ehre ist verletzt. Deshalb die Kontrolle über die Frauen und deren Sexualität. Frauen werden in Indien als Objekte betrachtet.
Ich bin eine unverheiratete Frau, und ich werde als Eigentum meines Vaters betrachtet. Wenn ich eines Tages heirate, dann werde ich das Eigentum meines Gatten. So steht es auch im Gesetz in Indien. Im Pass steht nicht der Name, sondern Tochter von XY oder Ehefrau von XY, Frauen werden nicht als Individuen betrachtet. Frauen sind schwach. In Indien werden Söhne bevorzugt, Frauen werden als Last empfunden und müssen so schnell wie möglich verheiratet werden. Viele meiner Freundinnen leben in Städten und haben Probleme mit häuslicher Gewalt, aber deren Eltern sagen ihnen, das gehört zum Verheiratet-Sein, damit musst du nun leben lernen. Eine Scheidung ist keine Option.
Interessanterweise trifft dies ja nicht nur auf ländliche, eher traditionelle Gebiete zu. Erst zu Beginn des Jahres kam es in der Grossstadt Bangalore zu einer Massenbelästigung von Frauen, einem ähnlichen Zwischenfall wie damals an der «Kölner Silvester-Nacht».
Viele Menschen ausserhalb Indiens denken, es gehe um arme, ungebildete Männer in ländlichen Regionen. Das stimmt nicht. Es geht um Männer aus allen Schichten und Klassen. Bildung hat offenbar nichts zu tun damit, wie Menschen respektiert und behandelt werden.
Für die Männer, die ja davon profitieren, ist es schwierig, ihre Privilegien aufzugeben.
Der Fall, den Sie nennen, vom Neujahr 2017, ist ein gutes Beispiel. Es geschah in einer Stadt, die wir auch das Silicon Valley von Indien nennen, in Bangalore. Leute feierten, und eine Gruppe Männer belästigte Frauen. Ich und andere Frauen organisierten danach einen Protestmarsch. Es ging uns darum, dass wir Frauen die öffentliche Sphäre zurückerobern und sagen, wir gehen raus auf die Strassen – genauso wie es Männer tun, und wir haben das Recht auf sichere Strassen und öffentliche Plätze.
Was ist mit den Männern. Die sind ja irgendwie gefangen zwischen Tradition und Moderne. Wie können sie lernen, mit dieser Situation besser umzugehen?
In jedem System profitieren die einen und die anderen nicht. Das gilt nicht nur für Indien. Denken Sie an die Schweiz, in der Frauen und Männer für die gleiche Arbeit noch immer nicht denselben Lohn erhalten. Ich denke, wenn Männer mehr Privilegien und Vorteile haben, dann ist es sehr schwierig für einen Mann, dies aufzugeben und zu sagen, das ist unfair, Frauen sollten gleich viel verdienen, oder Frauen sollten nicht das Eigentum der Männer sein.
Es geht um Aufklärung. Die Leute müssen im sexuellen Bereich das Konzept der Zustimmung kennen.
In Indien ist das nicht anders. Eltern, die Eigentum besitzen, geben dieses lieber ihren Söhnen statt den Töchtern, weil sie denken, die Frau geht ins Eigentum der Familie ihres Gatten über und dann ist das Eigentum verloren. Als Sohn ist es sehr schwierig, auf das Privileg zu verzichten und zu sagen, nein, ich will nicht alles, ich will es mit meiner Schwester teilen. Es geht um Selbstreflexion, darum zu sehen, dass es unfair ist, dass Frauen nachts nicht auch an eine Party gehen dürfen ohne Angst zu haben, vergewaltigt zu werden.
Aber wie lässt sich das Problem lösen? Die Männer wollen ihre Privilegien nicht aufgeben, die Frauen haben nichts zu sagen. Könnten vielleicht die Mütter etwas ins Rollen bringen? Sie erziehen ja die Knaben, also die künftigen Männer.
Im indischen Familiensystem haben auch die Mütter nicht viel zu melden. Der Vater ist der Boss, dann kommt der Sohn, erst später die Mutter, die Töchter und die Schwiegertöchter. Doch wenn ich zurückkommen kann auf Ihre Frage, wie sich das ändern lässt: Die Antwort mag langweilig erscheinen, aber es ist letztlich ein soziales Problem. Es kann nicht gelöst werden mit Technologie oder mit einem Gesetz. Einige Gesetze sind sehr progressiv, aber man muss sie auch implementieren, die Menschen müssen Kenntnisse haben vom Gesetz. Das sehen wir nun mit dem Vergewaltigungsgesetz. 2013 gab es ein neues Gesetz – doch wie viele Leute kennen es? Es geht um Aufklärung. Die Leute müssen im sexuellen Bereich das Konzept der Zustimmung kennen.
Das Gespräch führte Beat Soltermann.