Nosratollah öffnet die Tür eines Seminarraumes in der Universität von Kabul. Das Zimmer ist leer. Die Pulte und Bänke sind fein säuberlich ausgerichtet, nichts erinnert mehr daran, was hier am 2. November letzten Jahres geschah.
Doch Nosratollah gehen die Bilder von damals nicht mehr aus dem Kopf. Durchs Fenster sah er, wie bewaffnete Männer den Campus stürmten. Sie waren in Armeeuniformen gekleidet und bewaffnet. Doch es waren keine Soldaten, sondern Terroristen des sogenannten Islamischen Staates.
Studienkollegen wurden erschossen
«Nur wenig später stürmte einer von ihnen in diesen Raum und schoss um sich», sagt Nosratollah. Seither war der junge Mann nicht mehr hier. Er selber konnte sich hinter seiner Bank in der letzten Reihe verstecken und kam mit einer Verletzung am Arm davon.
«Ich habe zusehen müssen, wie meine Studienkollegen in der ersten und zweiten Reihe, einer nach dem anderen zusammensackten.» Seither quälen Nosratollah Alpträume und schwere Atemnöte.
Türkei wird zum Flüchtlings-Brennpunkt
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Viele Afghanen sehen keine Zukunft mehr in ihrem Land und flüchten – oft über Iran in die Türkei. Sie hoffen, von dort aus irgendwie nach Europa zu gelangen. «Ihre Zahl hat sich in letzter Zeit stark erhöht – die Rede ist von mehreren Hundert Afghanen, die derzeit pro Tag aus Iran über die Grenze kommen», sagt der Journalist Thomas Seibert, der in Istanbul lebt. «Es treffen jetzt ganze Flüchtlingstrecks ein.» Schon jetzt befänden sich wohl rund 500'000 Afghanen in der Türkei, ihre Anzahl könnte sich in nächster Zeit verdoppeln, befürchten Experten. «Doch viele Türkinnen und Türken wollen nicht noch mehr Flüchtlinge», so Seibert. Bereits sei es zu ersten Übergriffen von Türken auf Quartiere gekommen, in denen syrische Flüchtlinge leben und geschäften. Betroffen war erst diese Woche eine Strasse in Ankara, wo Syrer ihre Geschäfte haben. «Das zeigt, dass die Stimmung im Land kippt.» Nicht zuletzt wegen der Wirtschaftskrise würden Türken und Flüchtlinge immer stärker zu Konkurrenten auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, so Seibert. Präsident Erdogan habe das Problem lange ignoriert und sei auf dem falschen Fuss erwischt worden. «Die Regierung hat derzeit kein Konzept, um damit umzugehen.» Angesichts der angespannten Flüchtlingssituation in der Türkei könnte laut Seibert der Druck auf Europa wieder zunehmen. «Es werden noch mehr Afghanen versuchen, mit einem Boot nach Griechenland überzusetzen.» Allerdings habe die Türkei keinerlei Interesse, aktiv dafür zu sorgen, dass möglichst viele Flüchtlinge nach Europa gelangten. «Denn dadurch würde das Land noch viel stärker zu einem Transitland, was wiederum noch mehr Menschen aus allen Herren Länder anlocken würde», bilanziert der Journalist.
Das sei ein bekanntes Symptom, sagt der Psychologe Sharafuddin Azimi in Kabul. «Atembeschwerden sind ein klarer Hinweis auf Panikattacken.» Man habe das Gefühl, man kriege keine Luft mehr und sterbe.
Männer lassen sich nicht therapieren
Azimi behandelt Nosratollah nicht. Wie viele Afghanen nimmt der Student keine psychologische Hilfe in Anspruch. Psychische Probleme seien immer noch ein Tabu in Afghanistan, sagt Azimi. «Erst recht unter den Männern.» Dabei hätten praktisch alle Afghanen und Afghaninnen mit traumatischen Erlebnissen zu kämpfen.
Der Psychologe spricht von Stress, Depressionen oder sogar Zwangsstörungen. Zu den leidenden Afghaninnen gehört auch die Mutter von Rahid Amin. Der Student sass damals bei der Terrorattacke in der ersten Reihe und wurde von den Angreifern erschossen.
Ein Buchladen zu Ehren des ermordeten Sohns
Die Frau sitzt in Kabul in ihrem Buchladen, den sie nach ihrem Sohn benannt hat. Er hatte davon geträumt, nach dem Studium einen Buchladen zu führen. Alles im Geschäft erinnert an den Sohn, im Schaufenster steht ein grosses Bild von ihm – fast wie in einer Gedenkstätte.
Wahida Sheherzad sagt, Rahid habe den Buchladen allein hergerichtet, die Wände gestrichen. Doch wurde er umgebracht, noch bevor er das Geschäft öffnen konnte. «Jetzt verwirkliche ich seinen Traum», sagt die Mutter. Damit blieben zumindest die Ideen ihres Sohnes am Leben. «Er ist zum Märtyrer geworden.»
Auch dies analysiert der Psychologe Azimi per Ferndiagnose: Sheherzad versuche, ihren Sohn durch den Buchladen zu ersetzen, um ihren Schmerz zu lindern, sagt er. «Indem sie den Wunsch ihres Sohnes erfüllt, wird er unsterblich – ein Märtyrer.»
Taliban rücken weiter vor
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Die Taliban kommen immer näher an die afghanische Hauptstadt Kabul heran. Am Donnerstag fiel die 150 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Gasni im Südosten des Landes an sie. Das bestätigten drei Provinzräte der Deutschen Presse-Agentur. Die militanten Islamisten brachten damit die zehnte von 34 Provinzhauptstädten in weniger als einer Woche unter ihre Kontrolle. Zwei Provinzräte machten dem Gouverneur von Gasni Vorwürfe: Er habe ein geheimes Abkommen mit den Taliban geschlossen und so die Stadt praktisch an die Islamisten ausgeliefert. Der Gouverneur wurde auf seiner Fahrt nach Kabul denn auch in der Provinz Wardak festgenommen, wie das afghanische Innenministerium bestätigte. Gründe wurden aber keine angegeben. Gasni hat etwa 180'000 Einwohner und liegt an der wichtigen Ringstrasse, die die grössten Städte des Landes verbindet. Aufgrund ihrer Nähe zu Kabul hatten die Taliban bereits öfter versucht, diese einzunehmen. Heftig umkämpft sind offenbar auch Herat im Westen – laut neusten Berichten soll die Stadt inzwischen an die Taliban gefallen sein – und Kandahar im Süden Afghanistans.
Die US-Botschaft schrieb am Donnerstag auf Twitter, sie habe von weiteren Exekutionen von Soldaten gehört, die sich ergeben hatten. Das sei «zutiefst beunruhigend» und könnte Kriegsverbrechen darstellen. Sie verurteilte zudem die rechtswidrige Festnahme mehrerer Mitglieder der afghanischen Regierung durch die Taliban, darunter sowohl zivile Führer als auch Offiziere der afghanischen Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte. (dpa)
Märtyrertum statt Trauer
Aus der Sicht des Psychologen ist die in Afghanistan weit verbreitete Idee des Märtyrertums nichts anderes als eine psychologische Verarbeitungsstrategie. «Anstelle von Trauer entwickeln die Hinterbliebenen der Opfer von Terrorattacken oft Stolz, um den Schmerz zu lindern oder ihn vielleicht sogar zu übertünchen.»
Statt einer psychologischen Betreuung würden sie ein Bild des Verstorbenen aufstellen, der so zur Ikone werde – wie im Fall der Buchladenbesitzerin Sheherzad. Auch sie wird versuchen, allein mit dem Verlust ihres Sohnes klarzukommen.
Sie wird – wie viele andere Afghaninnen und Afghanen – keine psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Um zumindest die Träume ihres Sohnes am Leben zu erhalten, betreibt sie den nach ihm benannten Buchladen.
SRF 4 News, Echo der Zeit vom 12.8.2021, 18:00 Uhr
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