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Tom Segev: «Netanjahu ist nicht tapfer»
Aus Tagesgespräch vom 16.11.2023. Bild: IMAGO / Horst Galuschka
abspielen. Laufzeit 26 Minuten 14 Sekunden.

Gewalteskalation in Nahost «Netanjahus Verhalten ist weder mutig noch aufrichtig»

Der bekannte israelische Historiker Tom Segev kritisiert die israelische Regierung. Zudem fordert er einen Waffenstillstand in Gaza. Grosse Hoffnung auf baldigen Frieden hat er dabei nicht, wie im Gespräch mit ihm klar wird.

Tom Segev

Historiker und Journalist

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Tom Segev wurde 1945 in Jerusalem geboren. Seine Eltern, ein Architekt und eine Fotografin, waren 1933 aus Nazi-Deutschland nach Palästina geflohen. Segev studierte Geschichte und promovierte mit einer Arbeit über die Geschichte von KZ-Kommandanten. Neben seiner Tätigkeit als Historiker arbeitet er als Journalist – auch in Deutschland und der Schweiz. Segev lebt in Jerusalem.

SRF News: Der Angriff der Hamas ist über einen Monat her. Ist der Alltag in Israel zurückgekehrt?

Tom Segev: Nein. Der anfängliche Schock hat sich sogar vertieft. Wir hören immer mehr schreckliche Geschichten dieser Gräueltaten. Die grosse Frage ist: Wie konnte das passieren? Eine ganze Generation von Israelis ist mit der Vorstellung aufgewachsen, dass wir in Israel sicher sind.

Plötzlich kommt die Hamas und tötet über tausend Menschen.

Das kommt vom zionistischen Traum, einen Ort zu finden, wo jüdische Menschen sicher und geschützt leben können. Und plötzlich kommt die Hamas, tötet mehr als tausend Menschen und nimmt Hunderte von Geiseln. Ausserdem werden weiterhin Raketen aus dem Gazastreifen auf israelische Städte abgefeuert.

Sie sagen, Ministerpräsident Benjamin Netanjahu versage als Staatsmann in diesem Krieg. Wieso?

Jahrelang vertrat Netanjahu die Ansicht, es sei gut für Israel, wenn die Hamas autonom in Gaza regiere. Er gab Israel das Gefühl, das Palästinenserproblem unter Kontrolle zu haben. Dies ist offensichtlich nicht der Fall. Netanjahu hat völlig übersehen, dass die Hamas immer stärker wurde. Sie hat eine starke Armee aufgebaut und gibt sich kämpferisch.

Netanjahu ist mehrmals pro Woche im US-Fernsehen zu sehen – aber israelischen Medien gibt er keine Interviews.

Ausserdem finde ich Netanjahus Verhalten im Moment weder mutig noch aufrichtig. Obwohl er mehrmals pro Woche im amerikanischen Fernsehen zu sehen ist, gibt er den israelischen Medien keine Interviews, sondern nur Statements. Wenn er von ausländischen Medienvertretern gefragt wird, ober er eine Mitschuld am Krieg trage, antwortet er, dass nach dem Krieg wir alle diese Frage beantworten müssten. Das «wir» soll suggerieren, dass es nicht seine Schuld ist.

Netanjahu vor israelischen Flaggen.
Legende: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu wolle suggerieren, dass der Terrorüberfall der Hamas am 7. Oktober nicht seine Schuld war, sagt Historiker Tom Segev. Keystone/Abir Sultan

Wer sind die Leidtragenden in diesem Konflikt?

Die palästinensische Zivilbevölkerung. Die Menschen, die nicht für die Ideologie leben, die nicht für die Politik leben, die nicht für die Religion leben, die aber gezwungen sind, unter einem totalitären Regime der Hamas zu leben. Sie sind jetzt die Opfer. Die Entscheidung, Gaza zu zerstören, ist meiner Meinung nach schwer zu rechtfertigen. Als Historiker war ich immer gegen die Bombardierung von Städten.

Ich glaube nicht mehr an die Zweistaatenlösung.

Glauben Sie, dass Frieden möglich ist?

Alles ist möglich. Ich habe viele Mauern fallen sehen, die niemand für möglich gehalten hätte. Die Apartheid in Afrika, die Berliner Mauer, der Konflikt in Irland – alles existiert nicht mehr. Das waren alles Konflikte, von denen man dachte, dass sie ewig dauern würden. Wer weiss, vielleicht passiert das auch bei uns.

Viele hoffen nach wie vor auf die Zweistaatenlösung. Ist das realistisch?

Ich glaube nicht mehr an die Zweistaatenlösung. Nach den Verträgen von Oslo war ich noch optimistisch. Die geopolitische Situation in Palästina hat sich aber verändert und viele Gebiete, die zu Palästina gehören würden, sind von Israelis besiedelt. Beide Länder definieren ihre nationale Identität über das Land, über das ganze Land. Das heisst, jeder Kompromiss würde bedeuten, einen Teil der jeweiligen Identität aufzugeben. Dazu sind wir offensichtlich nicht fähig.

Das Gespräch führte David Karasek, Mitarbeit Géraldine Jäggi.

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Tagesgespräch, 16.11.2023, 13:00 Uhr ; 

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