Sebastián Hurtado sitzt in einem Café in Quito. Der 55-Jährige ist Risikoberater bei der Firma Profitas und berät ausländische Unternehmen, die in Ecuador investieren wollen. Eben hat er sich einen Espresso bestellt. «Ecuador ist in den letzten zehn Jahren zu einem der wichtigsten Player im Kokainhandel in der Region geworden», sagt Hurtado.
Es sei ein Durchgangsland, vor allem für Kokain aus Kolumbien. Laut manchen Statistiken kommen bis zu 60 Prozent des Kokains, das in Europa ankommt, über Ecuador zu uns. «Oft werden Schiffscontainer kontaminiert: Drogen werden hineingeschmuggelt. Das ist ein Problem für hier ansässige Firmen im Exportbereich, und für unsere Handelspartner».
Unweit von dem Café, indem Sebastián Hurtado sitzt, wurde vor den letzten Präsidentschaftswahlen im August 2023 einer der Kandidaten auf offener Strasse ermordet. Es war eine öffentliche Hinrichtung: Fernando Villavicencio starb durch mehrere gezielte Kopfschüsse, als er in sein Auto steigen wollte. Er wollte die Drogenmafia und die Korruption im Land bekämpfen. Neun weitere Menschen wurden bei dem Angriff verletzt, auch zwei Polizisten. Die Drahtzieher waren ecuadorianische und kolumbianische Drogenbanden.
Der Fall zeigt, dass die Drogengewalt in Ecuador längst bis in die höchsten Sphären der Macht vorgedrungen ist. Die Mordrate liegt in Ecuador inzwischen bei 45 Mordfällen pro 100'000 Bewohnerinnen und Bewohnern – ist also fast doppelt so hoch wie die von Mexiko.
Präsident setzt auf Politik der «harten Hand» und foutiert sich um Menschenrechte
Der 37-jährige Daniel Noboa ist der jüngste Präsident in der Geschichte des Landes. Er wollte nach seiner Wahl vor weniger als zwei Jahren die ecuadorianische Wirtschaft nach einer Rezession wieder ankurbeln und die Sicherheitskrise in den Griff bekommen. Dafür setzte Noboa auf erhöhte Militärpräsenz.
Im Januar 2024 erklärte er in einem Dekret, es gebe einen internen bewaffneten Konflikt in seinem Land und die Drogenbanden würden fortan als Terror-Organisationen eingestuft. Dieser Schachzug erlaubt Noboa seither, mit der gesamten Macht des Staates und des Militärs, Drogenbanden zu bekämpfen.
Doch trotzdem reisst die Welle der Gewalt nicht ab, im Gegenteil: Im Januar dieses Jahres erlebte Ecuador den blutigsten Monat in der Geschichte des Landes: Über 730 Menschen wurden ermordet, in nur 30 Tagen.
Besonders grosses Aufsehen erregte die Ermordung vier minderjähriger schwarzer Jungen im Alter von 11 bis 15 Jahren. Soldaten sollen sie verdächtigt haben, einer Drogenbande anzugehören. Doch Ermittlungen und ein Gerichtsurteil warteten die Militärs nicht ab: Sie töteten die Buben. Kritikerinnen und Kritiker sagen, ein Militär ausser Rand und Band gefährde die Menschenrechte in Ecuador.
Menschenrechte unter Druck
Mit dem Fall beschäftigt hat sich auch die Menschenrechtsorganisation INREDH. Direktorin Ingrid García findet, der Fall der vier ermordeten Buben sei symptomatisch für ein grösseres Muster: «Es trifft immer Schwarze, Indigene, Armutsbetroffene.»
So auch die vier Schwarzen Buben aus Guayaquil. «Die Sicherheitskräfte suchen nach Drogenbanden, und nehmen besonders Afro-Ecuadorianer ins Visier, auch Unschuldige. Sie denken, dass sie mit Einschüchterung und Repression Ordnung und Sicherheit schaffen. Die richtigen Probleme bekämpfen sie nicht: die Ursachen der Armut, die Perspektivlosigkeit».
Letztes Jahr verschwanden fast 800 Personen in Ecuador spurlos nach Polizei- oder Militäreinsätzen
Dayuma Amores, die Rechtsbeauftragte von INREDH nickt: «Letztes Jahr verschwanden fast 800 Personen in Ecuador spurlos nach Polizei- oder Militäreinsätzen». Manche landen in einem Gefängnis, ohne, dass Angehörige darüber informiert werden. «Und oft kommen sie aus dem Gefängnis nicht mehr lebend raus.»
Ecuadors Gefängnisse gehören zu den brutalsten Südamerikas. Sie gelten als hoch korrupt, sind für ihre blutigen Massaker bekannt – für Bandenkriege zwischen rivalisierenden Drogenbanden, und für Menschenrechtsverletzungen durch das Gefängnispersonal. Inzwischen kontrolliert das Militär die Gefängnisse im Land.
Dayuma Amores erklärt: «Aufgrund von Anzeigen von Familienangehörigen wissen wir von Menschen, die im Gefängnis verhungert sind. Es starben auch Menschen wegen Mangel an Medikamenten und Gesundheitsversorgung. Es wurden auch Gruppenvergewaltigungen von Gefangenen gemeldet, die Soldaten begangen haben sollen». Allzu oft gelte in solchen Fällen Straflosigkeit für das Militär.
Korruption hat Politik und Justiz infiziert
Der ecuadorianische Journalist Leonardo Gómez Ponce weiss genau, wie gefährlich es sein kann, in Ecuador Fragen zu Drogenbanden und Korruption zu stellen, oder darüber zu berichten: «Als wir unsere Recherche veröffentlicht hatten, gab es sofort Drohungen und Einschüchterungsversuche. Mein Kollege wurde auf dem Heimweg verfolgt von zwei Motorradfahrern. Sie schlugen ihm auf den Kopf», erzählt der Journalist.
«Tierra de nadie», Niemandsland, so nannte Leonardo Gómez Ponce seine Recherche über die Stadt Durán. Es sei ein vergessener Ort, sagt er, und dennoch von strategisch grosser Bedeutung für die Drogenkartelle. Denn wer Durán kontrolliere, kontrolliere den Zugang zum Hafen in Guayaquil. Dennoch habe Durán seit bald 40 Jahren keine anständige Wasserversorgung.
Sie erpressen die Leute: Wenn du Wasser willst, muss du jetzt doppelt so viel bezahlen. Wenn du dein Land ins Grundbuch eintragen willst, kostet das jetzt plötzlich mehr
Doch wo die einen Not sehen, sehen andere eine Geschäftsmöglichkeit. Ponce hat sich die Buchhaltung der Stadtverwaltung angesehen und einen «perversen Mechanismus» gefunden. «Drogenbanden haben verschiedene Bereiche der Stadtverwaltung unterwandert: das Grundbuchamt, die Wasserversorgung, die Feuerwehr. Sie erpressen die Leute: Wenn du Wasser willst, muss du jetzt doppelt so viel bezahlen. Wenn du dein Land ins Grundbuch eintragen willst, kostet das jetzt plötzlich mehr».
So hätten Drogenkartelle nach und nach Durán unter ihre Kontrolle gebracht. Das wiederum lockte rivalisierende Gangs an und es begann ein blutiger Kampf um das Niemandsland. Das Resultat: 2023 lag Durán im Ranking der Städte mit der höchsten Mordrate pro Kopf weltweit auf Platz eins.
Er habe in Durán im Kleinen aufgezeigt, wie die Drogenkartelle eine Stadt und ein Land unter ihre Kontrolle bringen, sagt Leonardo Gómez Ponce. Nun müsse die Politik handeln. Entscheidend dafür ist die Stichwahl der Präsidentschaftswahlen vom 13. April 2025. Dann tritt Amtsinhaber Daniel Noboa gegen die Linke Luisa González an.
Daniel Noboa will die Militärpräsenz in Ecuador weiter erhöhen, während Luisa González die Armut im Land bekämpfen will. Am wirksamsten wäre wohl beides zusammen – ansonsten droht die Gewaltspirale in Ecuador weiterzudrehen.