Angenommen, der russische Staat möchte sich eines prominenten Oppositionellen entledigen. Würden die Verantwortlichen dann wirklich einen Agenten schicken mit einem hochgeheimen chemischen Kampfstoff?
«Klar fragen sich viele: Wäre es nicht einfacher, einen politischen Gegner zu erschiessen?», sagt Irina Borogan. Sie und ihr Partner sind die bekanntesten Geheimdienstexperten Russlands und haben mehrere Bücher über Agenten und Spione geschrieben.
Zum Giftanschlag gegen Nawalny sagt Borogan: «Gift ist zur Visitenkarte geworden, die bei politischen Morden jeweils hinterlassen wird.» Tatsächlich ist Nawalny nur das jüngste Opfer. Der kritische Journalist Juri Schekotschichin, der Aktionskünstler Petr Wersilow, der Oppositionspolitiker Wladimir Kara-Mursa. Es gibt eine lange Liste von Kreml-Kritikern, die vergiftet worden sind.
Gift als Botschaft
Warum aber greifen die Täter, die mutmasslich aus den Geheimdiensten stammen, ausgerechnet zu Gift? «Es geht um die psychologische Wirkung. Wer vergiftet wird, der leidet. Wenn er stirbt, stirbt er langsam und qualvoll. Solche Taten verbreiten eine ungeheure Angst», sagt Borogan.
Eine Angst, die in den Köpfen angekommen ist: Für ihr jüngstes Buch haben Borogan und Soldatow mit russischen Oligarchen im Exil, kritischen Journalisten und anderen Kreml-Kritikern gesprochen. Fazit: Alle haben Angst vor Nowitschok, dem Gift, das auch Nawalny verabreicht wurde.
Geheimdienst-Experte Soldatow sagt: «Das Gift ist eine Botschaft für jene, die noch in Russland sind genauso wie für diejenigen, die schon im Ausland sind. Und die Botschaft ist: Es gibt ein Mittel, mit dem wir euch erwischen werden.»
Und was ist mit der Theorie, dass Hardliner aus dem Sicherheitsapparat Nawalny vergiftet haben? Ohne, dass es der Kreml wusste? «Dieses Argument höre ich immer wieder», sagt Soldatow. «Aber die russischen Geheimdienste stehen unter sehr strenger Kontrolle des Kreml. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass sie ohne Absprache so eine Operation durchführen.»
Sowjet-Wehmut im Geheimdienst
Soldatow sagt, in den Diensten herrsche ein regelrecht paranoides Weltbild. Die Geheimdienstler hielten jede noch so kleine oppositionelle Gruppe für eine Gefahr. Dies habe mit ihrem Geschichtsbild zu tun. So haderten Russlands Spione offenbar immer noch damit, dass die Sowjetunion 1991 einfach implodiert ist. «Und nicht einmal der mächtige Geheimdienst KGB konnte das sowjetische Imperium retten», sagt Soldatow.
Soldatow und Borogan sehen denn auch eine Linie von den sowjetischen zu den aktuellen, russischen Geheimdiensten. Nicht nur, dass Präsident Putin bekanntlich selber für den KGB gearbeitet hat – und viele seiner damaligen Dienstkameraden inzwischen hohe Posten haben.
Seit dem Amtsantritt von Putin gibt es wieder politische Morde – bis zum heutigen Tag.
Politische Morde gehörten zum gängigen Arsenal der früheren Sowjetunion, sagt Borogan: «Die sowjetischen Geheimdienste haben ihre Gegner ermordet. Unter Präsident Jelzin in den 90er-Jahren hörte diese Praxis auf. Doch seit dem Amtsantritt von Putin gibt es wieder politische Morde – bis zum heutigen Tag.»
Das letzte Opfer eines politischen Mordes wäre beinahe Alexej Nawalny geworden. Er selber zeigt sich im Interview mit dem «Spiegel» unerschrocken. Er werde nach Russland zurückkehren, sagte er. Borogan sie darin wie Soldatow erhebliche Risiken: «Er ist ein mutiger Mensch, aber nach Russland zurückzukehren ist sehr gefährlich für ihn.»