Die Staats- und Regierungschefs der EU haben den Giftanschlag auf den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal «in stärkster möglicher Weise» verurteilt. Man nehme die britische Einschätzung, dass Russland hinter dem Angriff stecke, extrem ernst, heisst es in einer entsprechenden Erklärung weiter. Sanktionen wurden allerdings keine festgelegt. Einzig der EU-Botschafter wird aus Russland abgezogen. Warum die Staaten sich so positionierten, erklärt Brüssel-Korrespondent Sebastian Ramspeck.
SRF News: Wie kamen die EU-Mitgliedstaaten zu dieser Meinung?
Sebastian Ramspeck: Theresa Mai hat gestern Abend offenbar längere Gespräche mit Staats- und Regierungschefs anderer EU-Staaten geführt. Diese sind bisher durch grosse Zurückhaltung aufgefallen. Sie verfolgen auch sonst eine eher russlandfreundliche Politik, zum Beispiel der griechische Premierminister Alexis Tsipras.
Es wurde nur über eine Schuldzuweisung, nicht über konkrete Taten gesprochen.
Sie soll ihren Kollegen hinter verschlossenen Türen auch Geheimdienstinformationen zukommen lassen und damit Überzeugungsarbeit geleistet haben. Wie immer bei solchen Beratungen dürften aber auch andere Fragen eine Rolle gespielt haben. So wurde zum Beispiel auch über die Türkei gesprochen und da ist die EU griechischen Forderungen entgegengekommen. Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Erklärung der EU zu Russland ist deutlich schärfer ausgefallen, als noch gestern Mittag zu erwarten war.
Kann Theresa May, die britische Premierministerin, zufrieden sein mit dieser Position der EU?
Ja, es ist durchaus ein Erfolg für May. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass gestern nur über eine Erklärung, über eine Schuldzuweisung, letztlich bloss über Worte diskutiert wurde.
Viele EU-Staaten haben wenig Lust auf eine weitere Verschlechterung ihres Verhältnisses zu Russland.
Es ging nicht um konkrete Taten, das hat die EU nicht oder noch nicht beschlossen. Es gibt vorerst keine Ausweisung von Diplomaten und keine zusätzlichen Wirtschaftssanktionen. Es ist klar, dass viele EU-Staaten wenig Lust auf eine weitere Verschlechterung ihres Verhältnisses zu Russland haben. Neben Griechenland sind das auch Ungarn, Österreich und Italien.
Was heisst das für das Verhältnis der EU zu Russland?
Es bleibt kompliziert. In der EU gibt es seit Jahren die Russland-Kritiker. Das sind Grossbritannien, Frankreich und Polen. Auf der anderen Seite gibt es Länder, die aus kulturellen und wirtschaftlichen Gründen als «Russland-Versteher» auftreten. Die Russlandpolitik der EU ist und bleibt deshalb eine Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Über jeden Entscheid, wie zum Beispiel über die Erweiterung der Sanktionen in Zukunft, wird sehr lange gerungen. Und mit der gestrigen Erklärung hat sich dieser kleinste gemeinsame Nenner nur ein paar Zentimeter in Richtung Russland-Kritiker verschoben.
Das Gespräch führte Hans Ineichen.