Es war das Jahr 1952, als Maria Putina ihren Sohn in eine Leningrader Kirche trug, um ihn taufen zu lassen. Im Geheimen musste das alles geschehen. In der Sowjetunion war Atheismus staatlich verordnet. Gläubige wurden verfolgt.
Putina und ihr Söhnchen kamen allerdings ungeschoren davon. Der diensthabende Pope Michail taufte den Neugeborenen auf den Namen Wladimir. Wladimir Putin sollte später russischer Präsident werden – und seine Herrschaft ein wahrer Segen für die russisch-orthodoxe Kirche. Diese Kirche hat ihren Einfluss auf Gesellschaft und Staat in den letzten Jahren massiv ausbauen können.
Nicht nur werden im ganzen Land Gotteshäuser saniert oder gleich neu gebaut. Der Klerus besitzt auch umfangreiche Ländereien, betreibt zahlreiche Geschäfte und geniesst umfangreiche Steuerprivilegien. Auch politisch reden die Männer in den schwarzen Roben mehr und mehr mit.
Wie mächtig die Kirche geworden ist – das lässt sich an einem Ort im hohen Norden Russlands besonders gut beobachten: auf den Solovetsky-Inseln im Weissen Meer.
«Solovky» nennen die Russen die abgelegene Inselgruppe, ein mystischer Ort, ein schöner Ort, ein Ort des Glaubens. Seit fünf Jahrhunderten steht auf der Hauptinsel das Solovetsky-Kloster mit seinen imposanten Mauern, mit den weiss leuchtenden Zwiebeltürmen, den prächtigen Kirchen.
In der Uspensky-Kathedrale hat der Gottesdienst begonnen. Die Menschen stehen dicht an dicht, viele beten andächtig, bekreuzigen sich, verbeugen sich vor dem heiligen Altar. Die Wände der Kirche sind mit aufwändigen Holzornamenten geschmückt, alles vergoldet. Ikonen zeigen Engel, die Mutter Gottes, Jesus Christus. Kerzen brennen, es riecht nach Weihrauch.
Das war lange Zeit anders: Das Kloster auf den Solovetsky-Inseln war nach der Oktoberrevolution von den Kommunisten geschlossen worden. Sie vertrieben die Mönche und raubten die Kunstschätze aus den Kirchen. Später liess der kommunistische Staat das einmalige Kulturdenkmal verlottern, weil niemand einen Wert in der Anlage sah.
Erst in den Neunzigerjahren, nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wurde das Kloster wieder eröffnet. Rund 70 Mönche leben heute hier. Auch die Kirchen wurden inzwischen für viel Geld saniert.
Ein Tourismus-Unternehmen für Gläubige
Und die Pilger sind zurück. Tausende gläubige Russen kommen jedes Jahr über das Meer auf die «Solovky». Im Büro des Pilgerdienstes herrscht fröhlicher Hochbetrieb. Ein Dutzend Frauen hat sich versammelt, alle mit Kopftüchern, alle mit langen Röcken. Jemand hat eine Wassermelone aufgeschnitten, es gibt Schwarztee. Ikonen schmücken die Wände. Doch die lockere Stuben-Atmosphäre trügt. Diese Stube ist die Zentrale eines mittleren Unternehmens, eines Tourismus-Unternehmens für Gläubige.
Schwester Nikona, schwarze Nonnentracht, wache Augen, ist die Chefin des Pilger-Büros. Ihr Schreibtisch ist übersät mit Papieren und Zetteln; alles, was wichtig ist, notiert die 55-Jährige in ein dickes Heft. Nikona dirigiert Gruppen von Pilgern in ihre Unterkünfte, organisiert Exkursionen auf der Insel, Führungen durch das Kloster.
Man könnte die Arbeitsteilung so zusammenfassen: Die Mönche sorgen für das Seelenheil der gläubigen Besucher – Nonne Nikona für alles andere.
«Wir ermöglichen den Leuten, die heiligen Orte auf den Solovetsky-Inseln zu besuchen. Das ist unsere wichtigste Aufgabe», sagt Nikona.
Den Glauben spät gefunden
Die Nonne hat eine typisch sowjetische Biographie. Wie die meisten Russinnen und Russen ihrer Generation ist sie erst als Erwachsene gläubig geworden. «Ich bin ursprünglich Atomphysikerin und habe 20 Jahre in einem Moskauer Forschungsinstitut gearbeitet. Doch die Wissenschaft kann auch nicht alles erklären. Wir Menschen wissen sehr viel über die Welt, aber über uns selbst wissen wir nichts.»
Die Moskauerin begann in den 1990er-Jahren regelmässig auf die Solovetsky-Inseln zu fahren. Der Ort hat etwas Magisches: diese Abgelegenheit, diese rauen Winde, die unberührte Natur. Im Sommer ist es praktisch immer hell - das Archipel liegt fast am Polarkreis, im Winter dafür geht die Sonne kaum auf.
[...] Ich spürte die ungeheure Kraft, die von diesem Ort ausgeht, das hat mich richtig ergriffen.
Nonne Nikona erinnert sich an die frühen Jahre auf der Insel: «Das Kloster war damals schrecklich arm. Es fehlte an allem. Die Mönche hatte gerade mal ein paar Zellen zur Verfügung. Aber ich spürte die ungeheure Kraft, die von diesem Ort ausgeht, das hat mich richtig ergriffen.
Nikona half beim Aufbau des Klosters. Sie kochte in der Kloster-Kantine, bestellte den Gemüsegarten, nähte auch mal Bettwäsche für die ersten Pilger, die auf den Archipel kamen. 2004 gab die Atomphysikerin ihren Beruf auf und zog ganz auf die Insel. Seither kümmert sie sich um die wachsende Zahl von Pilgerinnen und Pilgern; gegen 8000 sind es pro Jahr. Und es werden immer mehr.
Zu viele Pilger?
Aus dem einst so armen Kloster, für das Nonne Nikona in den 1990er-Jahren auf dem kargen Boden Kartoffeln angepflanzt hatte, ist inzwischen ein richtiges Unternehmen geworden. Es bietet eigene Unterkünfte für Pilger an, betreibt eigene Ausflugsboote und ein gut besuchtes Selbstbedienungs-Restaurant.
Bei Gottesdiensten versammeln sich in der Uspenski-Kathedrale bis zu 500 Menschen. Die allermeisten davon sind Pilger. Und ihre schiere Zahl zeigt, wie die Kräfteverhältnisse auf der Insel inzwischen sind: In der Ortschaft des Archipels leben nicht viel mehr Menschen als in die Kirche passen. 700 vielleicht.
Die steigende Zahl der Pilger und den wachsenden Einfluss der Kirche sehen viele Inselbewohner kritisch. Oleg Kodola etwa regt sich ziemlich auf über diese kirchliche Dominanz. Kodola ist Unternehmer und betreibt auf den Solovki ein Feriendorf, kleine, rote Holzhäuschen mitten im Wald. «Die Gewichte verschieben sich auf der Insel», sagt er. «Die Frauen, die als Fremdenführerinnen arbeiten, tragen inzwischen Kopftücher und lange Röcke. Das gab es früher nicht, wir sind ja eigentlich ein säkularer Staat, wenigstens im Moment noch.»
Tatsächlich sind Kirche und Staat formal getrennt. Zumal in Russland nicht nur orthodoxe Christen leben, sondern auch Juden, Muslime oder Buddhisten. Die Orthodoxe Kirche hat dennoch eine Sonderstellung.
Auf den Solovetsky-Inseln präsentiert sich das so: Das Kloster wird von der Kirche genutzt – aber saniert auf Kosten des Steuerzahlers. Die Anlage steht unter dem Schutz der Unesco, als Weltkulturerbe. Der Kreml will in den nächsten Jahren umgerechnet hundert Millionen Franken allein in Renovationsarbeiten investieren. Dazu kommt eine grössere Summe für den Ausbau der Infrastruktur auf der Hauptinsel.
Ein prominentes Gremium von Putins Gnaden
Diesen Frühling hat Präsident Wladimir Putin einen «Fond zur Entwicklung des Solovetsky-Archipels» gegründet. Die Institution soll bei der Sanierung des Klosters helfen, aber auch in die Infrastruktur investieren. Für die Pilger.
Der Beirat dieses Fonds ist hochkarätig. In dem Gremium sitzen unter anderem zahlreiche Minister der russischen Regierung, der Abt des Klosters, aber auch der Chef des Energiekonzerns Gazprom. Vorsitzender ist Michail Fradkow, Ex-Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes und heute starker Mann beim staatlichen Rüstungskonzern Almas-Antei.
Der Fonds versammelt also Vertreter alle jener Kreise, die in Russland etwas zu sagen haben. Politik, Kirche, Geheimdienst und Rüstungsindustrie. Sie alle kümmern sich einvernehmlich um die Klosterinsel.
Die Kirche ist ein Machtinstrument, eine religiöse Administration, die vom Staat finanziert und gelenkt wird.
Kirchenkritiker Oleg Kodola glaubt deswegen, dass es auf den «Solovky» weniger ums Seelenheil als vielmehr um Geld und Macht geht: «Die Kirche ist nicht eine Gemeinde, in der sich Gläubige zusammengeschlossen haben. Die Kirche ist ein Machtinstrument, eine religiöse Administration, die vom Staat finanziert und gelenkt wird.»
Die enge Verzahnung von weltlicher und religiöser Macht hat Tradition in Russland. Die Zaren herrschten nicht nur über ihr Volk, sie waren zugleich Oberhaupt der Orthodoxen Kirche. Die Priester dienten also sowohl Gott wie auch dem Zaren – und wurden dafür mit zahlreichen Privilegien belohnt. Eine gedeihliche Zusammenarbeit, die jetzt zurückkehrt, glaubt Tourismusunternehmer Kodola: «Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus herrschte ein ideologisches Vakuum. Aber die Staatsmacht hatte keine neue Idee, wie man diese Lücke füllen könnte. Also setzte man wieder auf die alten Methoden, die Kirche, den Glauben.»
Auch viele andere Bewohner des Archipels sind so kritisch wie Kodola. Sie fühlen sich von der neuen Macht der Kirche bedroht. Es geht sogar das Gerücht um, die Kirche wolle alle weltlichen Einwohner von den Inseln vertreiben. Der Archipel soll Gottes Land werden.
Was sagt man im Kloster zu diesen Vorwürfen? Wie eine Trutzburg steht die riesige Anlage auf einer Landzunge zwischen einer Meeresbucht und einem Süsswassersee. Hohe Mauern aus runden Findlingen umgeben das Gelände, dahinter schauen die Türme der Kirchen hervor. Ein wehrhafter Ort des Glaubens.
Kirche verneint Umsiedlungspläne
Zum Gespräch empfängt Archimandrit Janvarii, ein leitender Mönch. Lange schwarze Robe, langer schwarzer Bart, freundliches Gesicht. Auf die Umsiedlungspläne angesprochen, winkt Janvarii ab. Solche gebe es nicht.
«Diese Frage wurde in den 1990er-Jahren einmal diskutiert, ist seither aber kein Thema mehr. Schliesslich haben wir es mit einer relativ grossen Ortschaft zu tun und die meisten Einwohner wollen nun mal nicht umziehen.»
Das russische Volk braucht moralische und geistliche Orientierungspunkte. Nur wenn es solche hat, kann es sich in die richtige Richtung entwickeln.
Archimandrit Janvarii, der Mönch aus dem Solovetsky-Kloster, bestätigt aber, dass die Kirche nach mehr Einfluss strebt. Die weltliche Macht habe ein grosses Interesse an kirchlichen Dingen: «Der russische Staat möchte, dass die Kirche eine wichtige Rolle spielt. Unsere 1000-jährige Geschichte lehrt uns: Das russische Volk braucht moralische und geistliche Orientierungspunkte. Nur wenn es solche hat, kann es sich in die richtige Richtung entwickeln.»
Was aber ist «die richtige Richtung»? Der Mann, der in dieser Frage massgeblich mitredet, ist Patriarch Kirill, das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche.
Er ist seit bald zehn Jahren im Amt und er hat der Kirche seinen Stempel aufgedrückt: konservativ und staatsnah. Die Ehe für homosexuelle Paare etwa hält der Patriarch für ein Zeichen der «nahenden Apokalypse»; den Feminismus bezeichnete er als Gefahr, die Russland zerstören könne.
Diese Ablehnung liberaler Werte entspricht ganz dem russischen Zeitgeist: Der Kreml propagiert seit Jahren die Idee von Russland als eine Art Bollwerk gegen die Sittenlosigkeit des Westens. Da verwundert es auch nicht, dass Kirill die Regentschaft von Präsident Wladimir Putin sehr wohlwollend beurteilt: Er nannte den Staatschef einst ein «Geschenk Gottes».
Macht und Ideale spannen zusammen
Kirill und Putin: Zwei Machtmenschen spannen zusammen. Der Staatschef liefert Geld, Macht, Ressourcen – das Oberhaupt der Kirche den ideellen Überbau. Es ist eine Symbiose, die beiden nützt.
Es mag eine Laune der Geschichte sein, reiner Zufall; aber die Lebenswege der beiden Männer haben sich schon vor vielen Jahren einmal gekreuzt. Pope Michail, der 1952 den neugeborenen Wladimir getauft hat, hatte damals ebenfalls einen kleinen Sohn: den heutigen Patriarchen Kirill.