Umfragen zeigen: bei der Ehe für alle ist die Meinung der Griechen und Griechinnen geteilt: 50 Prozent dafür, 50 Prozent dagegen. Insofern ist das deutliche Ja des Parlaments eine Überraschung. Diese Überraschung hat einen Namen: Kyriakos Mitsotakis. Der Premierminister der konservativen Nea Demokratia lebte lange in den USA und hat ein ausgesprochen liberales Profil.
Wäre noch sein Vorgänger Antonis Samaras im Amt, die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare hätte kaum eine Chance gehabt. Mitsotakis aber ist es gelungen, in dieser Frage zwei Drittel seiner eigenen konservativen Abgeordneten und einen grossen Teil der linken Opposition zusammenzubringen. In Griechenland, wo Regierung und Opposition kaum je gemeinsam stimmen, ein kleines Wunder.
Widerstand der Kirche
Bei der Ehe für alle hatte Mitsotakis vor allem eine mächtige Gegenspielerin: die griechisch-orthodoxe Kirche. Diese hatte im Vorfeld alle Parlamentarier und Parlamentarierinnen anschreiben lassen und gedroht, wer dem Gesetz zustimme, sei nicht mehr willkommen.
Dass dieser kirchliche Druck mehrheitlich ins Leere lief, zeigt, dass der Einfluss der Popen schwindet. Aber er schwindet langsam. In vielem bleibt der Einfluss der griechisch-orthodoxen Kirche bedeutend. Ein Beispiel: am Ende eines jeden Lebens stellt sich die Frage der Bestattung. Viele Griechen und Griechinnen wünschen sich eine Feuerbestattung – auch aus finanziellen Gründen. Doch die griechisch-orthodoxe Kirche läuft seit Jahren Sturm gegen Kremierungen, weil sie sagt, auf diese Weise könnten Körper und Geist nicht gemeinsam auferstehen.
Veränderungen brauchen viel Zeit
Zwar hatte die linke Regierung des ehemaligen Premiers Alexis Tsipras die Feuerbestattung legalisiert. Dennoch gibt es bis heute in ganz Griechenland erst ein einziges Krematorium in Athen. In Griechenland verändern sich die Dinge langsam. So gibt es auch weiterhin keine Trennung von Kirche und Staat. Die Verflechtungen bleiben eng.
Unter diesen Vorzeichen ist die Ehe für alle tatsächlich ein grosser und keineswegs selbstverständlicher Schritt. Griechenland ist das einzige Land mit mehrheitlich orthodoxer Bevölkerung und auch eines der am weitesten östlich gelegenen EU-Länder, die die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare eingeführt haben.
Es ist davon auszugehen, dass Griechenland die Debatte in anderen orthodoxen oder osteuropäischen Ländern stark beeinflussen wird. Dies steigert die Bedeutung der gestrigen Entscheidung zusätzlich.