Verona ist nicht zu gross und nicht zu klein, nicht zu arm, um bloss aus sozialen Brennpunkten zu bestehen, und nicht zu reich. Es liegt auch nicht in Süditalien. Und: Auch in Verona gibt es Gruppenvergewaltigungen.
Auch in Verona hat es sogenannte Baby Gangs, wie man in Italien kriminelle Jugendbanden nennt. Sie sei sehr besorgt über die Sicherheitslage, sagt eine junge Mutter im Stadtzentrum, und ja, sexuelle Gewalt sei nicht mehr bloss ein Phänomen des Südens.
Kein Kuss-Skandal in Italien
Neun von zehn Frauen in Verona würden sexuelle Gewalt nicht zur Anzeige bringen, weil die Polizei zu wenig energisch ermittle, ist die junge Mutter sich sicher.
Und was hält sie vom Kuss-Skandal in Spanien, bei dem der Präsident des nationalen Fussballverbands eine Spielerin gegen ihren Willen auf den Mund küsste? «Nicht so schlimm», meint die Frau, «das könne im Überschwang der Gefühle passieren.»
Was kann man aus diesem zufälligen Gespräch auf der Strasse mitnehmen? Vielleicht eine mangelnde Sensibilität für sexuelle Gewalt, einen gewissen Machismus, stärker als in Spanien. Erst seit 1996 gelte sexuelle Gewalt – also auch Vergewaltigung – als Straftat gegen eine Person, unterstreicht Marisa Mazza, Präsidentin von Isolina, einer NGO gegen Femizide. Davor sei sie bloss als Straftat gegen die öffentliche Ordnung und Sitte geahndet und entsprechend milder bestraft worden.
Die Psychologin Giuliana Guadagnini, die in ihrer Praxis Opfer von Jugendgewalt, oft auch sexualisierter Jugendgewalt, behandelt, bestätigt, dass der spanische Kuss-Skandal keine grossen Wellen geschlagen habe.
Und ein analoger Fall in Italien würde auch viel weniger Aufsehen als in Spanien erregen, weil ein Trainer oder Präsident als väterliche Figur betrachtet werde. «Wir sind Mammoni und Paponi», immer nahe an der Familie, lacht Guadagnini.
Mammoni und Paponi
Das führt zur Frage: Welchen Einfluss hat die patriarchale Struktur der italienischen Familie auf sexualisierte Gewalt? Die Soziologin Paola di Nicola hält das für einen überholten Mythos.
Die einzige elterliche Struktur, die in Italien tatsächlich fundamental ist und auf die man sich stützen kann, sind nicht die Eltern, sondern die Grosseltern.
Denn ein Drittel der Haushalte bestehe heute aus alleinstehenden, meist älteren, verwitweten Personen. Ein weiteres Drittel sei kinderlos beziehungsweise die Kinder seien bereits ausgezogen und bei den übrigen seien vor allem die Grosseltern mit der Erziehung beschäftigt: «Die einzige elterliche Struktur, die in Italien tatsächlich fundamental ist und auf die man sich stützen kann, sind nicht die Eltern, sondern die Grosseltern. Diese grosse elterliche und familiäre Struktur existiert im Alltag nicht mehr.»
Die Krise des Mannes
Für Paola di Nicola ist einerseits die Krise des Mannes und der Männlichkeit – überall in Westeuropa verbreitet, aber in Italien vielleicht ein sensibleres Thema – ein Faktor sexueller Gewalt. Anderseits sei es auch mangelnde Erziehung.
Es gebe eine junge Generation, die niemals ein Nein von ihren Eltern gehört habe, die alles gekriegt habe, was sie wollte, und die sich nun auch nehme, was sie wolle.
Sexuelle Gewalt auch aus der Mittelschicht
Di Nicola beobachtet sexualisierte Gewalt deshalb auch bei Jugendlichen der Mittelschicht. Auch das gebe es überall. Doch dass die Mutter eines Vergewaltigungsopfers zwei Wochen wartet, bis sie eine Anzeige bei der Polizei erstattet, wie in Caivano bei Neapel geschehen, würde in der Schweiz kaum vorkommen.
Das sei tatsächlich ein süditalienisches Phänomen: Die Gegend sei unter Kontrolle der Mafia, die Täter aus dem Umfeld der Mafia, die Mutter sei bedroht worden, weiss Paola di Nicola.
Der Tiktok-Pfarrer
Einer, der die Jugend in Verona kennt, ist Pfarrer Ambrogio Mazzai. Er ist 32 Jahre jung, also ein «Digital Native», und trägt den Spitznamen Don Tiktok, weil er permanent auf Social Media mit vielen Jungen kommuniziert.
Ja, es gebe in Italien noch immer eine Tradition, die sexualisierte Gewalt tabuisiere, weil eine Anzeige Schande über die Familie bringe. Ansonsten sieht Don Tiktok die Ursachen sexualisierter Jugendgewalt nicht in typisch italienischen Strukturen. Mobbing auf Social Media, Pornografie im Netz, die gewaltverherrlichende Kultur der sogenannten Trapmusik hätten zur Folge, dass junge Männer Frauen als Objekte betrachteten und nicht die «gesamten 360 Grad eines Menschen sehen».
Was ist typisch italienisch an den Gruppenvergewaltigungen? Das ist eine heikle Frage. Es gibt, wie erwähnt, Strukturen und gesellschaftliche Traditionen, die sexualisierte Gewalt tatsächlich befördern. Daneben gibt es starke Treiber der sexualisierten Gewalt, zum Beispiel Cybermobbing, die sich nicht auf Italien beschränken.