Caitlyne bindet sich die Haare sorgfältig zusammen, gleich wird sie von einem grossen US-Sender interviewt. Das Zimmer der 11-Jährigen voll mit Stofftieren – aber auch mit Fotos von Kindern. Viele von ihnen sind tot.
«Ich gehe manchmal zum Friedhof und erzähle ihr von meinem Tag», sagt Caitlyne Gonzalez und zeigt auf das Foto eines Mädchens. «Ich reise durch die Welt für sie.»
Caitlyne Gonzalez hat das Massaker an ihrer Schule in Uvalde am 24. Mai 2022 überlebt, eine Kugel flog über ihren Kopf. Doch sie hat ihre beste Freundin Jackie verloren. Seither spricht die 11-jährige Caitlyne an Kundgebungen und gibt Interviews. «So kann ich der Welt erzählen, warum es so wichtig ist, die Waffengesetze zu ändern.»
Ein 18-jähriger ehemaliger Schüler tötete mit einem Maschinengewehr 19 Kinder und 2 Lehrerinnen in der Robb-Primarschule in Uvalde, Texas. Die Waffe hatte er kurz davor legal gekauft. Die Attacke am 24. Mai 2022 war eine der fatalsten in den USA. Angriffe mit Schusswaffen in Schulen sind in den letzten Jahre immer häufiger geworden.
Jackies Tod quält ihre Mutter und Schwester jeden Tag. «Sie war keck. Aber sie hatte ein grosses Herz. Ihre Umarmungen, ihr ‹Ich liebe dich›, vermisse ich am meisten», sagt ihre Mutter Gloria Cazares. Sie besucht zusammen mit der älteren Schwester von Jackie, Jazmin, die Gedenkstätte im Zentrum von Uvalde.
Auch die beiden haben sich dem Kampf gegen Waffengewalt verschrieben, fordern strengere Gesetze. Doch ihr politisches Engagement habe zu Konflikten in ihrem Umfeld geführt, sagt Jazmin Cazares. «Viele wandten sich ab, das war schon unerwartet. Aber wir sind in Texas, wo den Leuten ihre Waffen wichtiger sind als tote Kinder.»
Letztes Jahr sind über 1500 Kinder in den USA durch Schusswaffen getötet worden. Ein trauriger Rekord. Statt Verkehrsunfälle sind inzwischen Schusswaffen die häufigste Todesursache bei Minderjährigen in den USA.
In Uvalde gibt es in einem Outdoor-Shop auch Schusswaffen zu kaufen. Strengere Waffengesetze kommen hier nicht gut an. Ein pensionierter Mann, der in der Umgebung eine Ranch hat, will anonym bleiben. Er sagt: «Nicht die Waffen töten Menschen. Menschen töten Menschen. Man kann auch mit einem Messer oder einem Besenstiel töten.» Auf den Einwand, dass es aber viel schwieriger sei, mit einem Stock zu töten als mit dem in den USA beliebten AR-15-Maschinengewehr, sagt er, die AR-15 sei, wie jedes andere Gewehr, aus schwarzem Plastik.
So wie er denken viele in Texas. Strenge Waffengesetze haben in den USA politisch kaum eine Chance. Konservative Bundesstaaten wie Texas wehren sich gegen strengere Waffengesetze, ja lockern sie teils gar. Linksliberale Bundesstaaten haben zwar strengere Waffengesetze – doch kürzlich hat die konservative Mehrheit am Höchsten Gericht ein solches für verfassungswidrig erklärt.
Caitlyne geht jede Woche in Therapie, um ihre posttraumatische Belastungsstörung zu überwinden. Ihre Mutter Gladys Gonzalez erzählt von der schwierigen Zeit für ihre Tochter: «Nach dem 24. Mai musste ich während neun Monaten neben meiner Tochter schlafen. Sie hatte regelmässig Albträume und viele Panikattacken.»
Caitlyne wirkt tapfer. «Ich habe Flashbacks. Es ist hart. Aber ich werde es überwinden.» Ihre Auftritte gegen Waffengewalt hälfen ihr in ihrem Schmerz, sagt die Mutter. Caitlyne sagt, sie spreche öffentlich, weil ihre Freunde es nicht mehr können. Sie hat sich einem gigantischen Kampf verschrieben, denn bisher waren strengere Waffengesetze in den USA ein fast aussichtsloses Unterfangen.