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474 Frauenmorde in der Türkei
Aus Zwischen den Schlagzeilen vom 17.06.2020. Bild: Keystone SDA
abspielen. Laufzeit 13 Minuten.

Häusliche Gewalt in der Türkei Wo die Polizei Opfer wieder nach Hause schickt

Familie über alles: Patriarchale Strukturen halten sich in der Türkei hartnäckig. Die Folgen für Frauen sind verheerend.

Grausame Morde an Frauen sind in der Türkei an der Tagesordnung. 2019 wurden 474 Fälle registriert, in denen Frauen von ihren Männern oder Partnern getötet wurden.

Diese Zahl markiert einen traurigen Höchstwert in dem Land, in dem 2011 ein völkerrechtliches Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, die Istanbul-Konvention, unterzeichnet worden ist.

Öffentlichkeit durch soziale Medien

Über sozialen Medien werden diese sogenannten Femizide öffentlich. So etwa der Fall von Sule Cet, der 2018 auf Twitter weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat.

Die Studentin aus Ankara wurde vergewaltigt und aus dem 20. Stock eines Hochhauses geworfen. Der Täter, wohlhabend und gut vernetzt, wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt, sein Helfer zu 19 Jahren.

Frauen protestieren gegen häusliche Gewalt
Legende: «Früher wurden viele Fälle häuslicher Gewalt totgeschwiegen», sagt Seibert. In den letzten Jahren wurden die Proteste in der Türkei gegen Gewalt an Frauen grösser und lauter. Reuters

Aber die patriarchalen Strukturen halten sich hartnäckig. Das berichtet der Journalist Thomas Seibert: «Umfragen zeigen, dass selbst viele Frauen der Meinung sind, Männer hätten durchaus das Recht, sie ab und an zu verprügeln.»

Nur 35 Prozent der Türkinnen sind erwerbstätig. Diese Abhängigkeit trage zum Problem bei. «Frauen erdulden Gewalt, um nicht mit den Kindern auf der Strasse zu landen», sagt Seibert.

Traditionelle Familienbilder

Präsident Recep Tayyip Erdogan fordert immer wieder, grosse Familien zu gründen gegen die Überalterung. Das läuft meist darauf hinaus, dass die Frauen zu Hause bleiben.

Kritiker werfen ihm vor, die traditionelle Familienform fortzuschreiben. «Erdogan hat auch schon gesagt, dass Männer und Frauen nicht gleich sind», so Seibert.

Thomas Seibert

Journalist in der Türkei

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Thomas Seibert verdiente sich seine journalistischen Sporen bei der «New York Times» und den Nachrichtenagenturen Reuters und AFP, bevor er 1997 als freier Journalist in die Türkei ging. Nach einem kurzen Zwischenhalt als Berichterstatter in den USA kehrte er im Juni 2018 nach Istanbul zurück.

Teile der türkischen Gesellschaft betrachten die Zerstörung der Familie als Schande. Das Religionsministerium rät Frauen nach einem Angriff in den eigenen vier Wänden: Ruhe bewahren, den Mann besänftigen und, statt die Polizei zu rufen, lieber «etwas Schönes machen».

Vergeblich bei der Polizei

Laut Seibert gibt es auch immer wieder Fälle von Frauen, die sich Dutzende Male bei der Polizei gemeldet haben – vergeblich. «Diese rät ihnen dann: Geh wieder heim und vertrag dich mit deinem Mann.»

Existiert die Istanbul-Konvention nur auf Papier? «Auch unter Erdogan haben sich die Gesetze verändert, und er ächtet die Täter solcher Gewaltverbrechen», sagt Seibert. Viele Richter seien zwar noch immer milde gegenüber den Angeklagten. Aber das Übereinkommen helfe den Frauenverbänden: «Sie haben damit einen internationalen Rechtsrahmen, auf den sie sich berufen können.»

Die Frauenrechtsgruppen sind landesweit sehr aktiv und bauen Druck auf, die Istanbul-Konvention umzusetzen. «Sie machen den Richtern klar, dass die Öffentlichkeit ihnen auf die Finger schaut», so der Journalist.

Traditionelle Machtstrukturen aufbrechen

Allerdings sehe die Regierung hinter fast jeder Kritik an ihrer Arbeit einen Aufruf zum Regierungssturz. Das erschwere einen konstruktiven Dialog. Gleichzeitig fordern konservative Gruppen eine Abschaffung der Konvention.

Als erstes Land weltweit unterzeichnete die Türkei die Istanbul-Konvention zur Bekämpfung und Prävention von Gewalt gegen Frauen. Aber die Opferstatistik stimmt pessimistisch.

Seibert glaubt, dass neben den sozialen Medien auch die Urbanisierung einen Teil zur Lösung beitragen könnte: «Frisch verheiratete Paare ziehen heute in eine eigene Wohnung und nicht mehr zu den Schwiegereltern.» Damit würden traditionelle Machtstrukturen aufgebrochen – und neue Werte entstehen.

Zwischen den Schlagzeilen, 17.06.2020, 07.24 Uhr ; 

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