Erstmals seit seinem Einzug ins Weisse Haus stellt sich Joe Biden heute ausführlich den Fragen von Journalisten. Themen wie die erfolgreiche Impfkampagne kämen ihm gelegen. Anders sieht es mit Blick auf die Lage an der Südgrenze zu Mexiko aus.
In den vergangenen Wochen hatte der Druck auf die Biden-Regierung in diesem Zusammenhang erheblich zugenommen. Biden nahm den Reportern am Tag vor der Medienkonferenz immerhin etwas Wind aus den Segeln: Er legte die Eindämmung der Migration in die Hände von Vizepräsidentin Kamala Harris – und erklärte das Thema damit zur Chefsache.
Die US-Regierung spricht bislang nicht von einer Krise an der Südgrenze, vielmehr ist die Rede von «Herausforderung». Doch der Druck an der Grenze zu Mexiko steige derzeit massiv, weiss USA-Kenner Stephan Bierling: «Die Corona-Pandemie hat die zentralamerikanischen Länder weit mehr in Mitleidenschaft gezogen als die USA.» Jetzt versuchten viele notleidende Menschen, in die ökonomisch wieder anspringenden USA zu gelangen.
«Migrationspakt» mit Mittelamerika
Harris soll nun mit Mexiko und Ländern des nördlichen Dreiecks – Honduras, Guatemala und El Salvador – zusammenarbeiten, damit diese abgewiesene Migranten aufnehmen und die Kontrolle ihrer Grenzen verbessern.
Die Menschen verliessen die Länder aus unterschiedlichen Gründen und es gehe darum, die Ursachen anzugehen, die die Menschen dazu bringen, sich auf den Weg zu machen, sagte Harris. Biden sagte: «Ich glaube, ich habe Dir eine schwere Aufgabe gegeben.»
Niemand sei jedoch besser dafür geeignet, fügte er hinzu und verwies auf Harris' Erfahrung als Justizministerin im grössten US-Bundesstaat Kalifornien. Dort erarbeitete sie sich einen Ruf als «Law and Order»-Politikerin.
Bewährungsprobe für Harris
Für den Amerika-Kenner Bierling ist die neue Aufgabe der Vizepräsidentin eine Gratwanderung. Denn der linke Flügel der Demokraten drängt auf die rechtliche Anerkennung illegal eingewanderter Migranten und eine weitgehende Liberalisierung.
Gleichzeitig gibt es ein demokratisches Spektrum, das eine harte Haltung in Einwanderungsfragen vertritt. «Die Demokraten sind gefangen zwischen zwei Extrempositionen.»
Biden hatte als Vizepräsident unter Barack Obama eine ähnlich delikate Position inne und war etwa mit Irak betraut. «Das praktiziert er jetzt auch mit Harris, die eine ‹heisse Kartoffel› bekommt», sagt der Professor für internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg.
Chance und Risiko
Für Harris ist die verantwortungsvolle Aufgabe beim Reizthema Migration eine Gelegenheit, politisch an Statur zu gewinnen – und sich als potenzielle Nachfolgerin von Biden in Position zu bringen. «Biden ist der älteste Präsident in der US-Geschichte und wird vielleicht nur eine Amtszeit machen», so Bierling.
Für Harris sei die Herausforderung jedoch Chance und Risiko zugleich, schliesst der Experte für US-Politik: Kriegt sie die Lage an der Südgrenze wieder unter Kontrolle, kann sie das als grossen Erfolg verbuchen. Falls die Migrationszahlen weiter steigen, droht sie zum Gesicht der Krise zu werden.