Nach den Anschlägen von 9/11 wurde der Terrorismus zur Top-Priorität. Die Geheimdienste erhielten höhere Budgets, mehr Personal, weitreichende Befugnisse. In der Coronakrise ist die Rolle der Geheimdienste unklar. Der Bericht der Geheimdienstallianz zwischen den USA, Grossbritannien, Kanada, Australien und Neuseeland sorgte für Schlagzeilen.
Doch die Aussagekraft dieses Dokuments werde weit überschätzt, sagt Nigel Inkster gegenüber SRF. Früher die Nummer zwei im britischen Auslandgeheimdienst MI6, ist er heute Experte bei der Londoner Strategiedenkfabrik IISS. «Ich habe fast alles, was in dem Geheimbericht drinsteht, bereits aus jedermann zugänglichen Quellen erfahren.»
Druck auf China erhöhen
«Aussagen aus dem Bericht gelangten wohl primär an die Öffentlichkeit, um den politischen Druck auf China zu erhöhen», ist Professor Paul Pillar von der Georgetown Universität in Washington überzeugt. Auch er ist ein Ex-Geheimdienstler mit 28 Jahren Erfahrung auf Schlüsselposten im US-Geheimdienst CIA.
Es wird enorm viel vertuscht, um das eigene Regime zu schützen.
«Längst nicht alle Länder üben in der Corona-Pandemie Transparenz, nicht China, nicht Russland, nicht Iran, nicht Ägypten und auch viele andere nicht. Es wird enorm viel vertuscht, um das jeweilige Regime zu schützen», so Pillar. Entsprechend gebe es für die Geheimdienste einiges herauszufinden.
Pandemien gehören zu den grossen Bedrohungen für die Gesellschaft und daher aufs Radarbild von Geheimdiensten – welche Priorität man ihnen beimesse, sei jedoch Sache der Politik. Pillar erwartet, dass sich mit Corona die Prioritätenordnung ändert.
Inkster hingegen glaubt nicht, dass Geheimdienste in einer Pandemie eine führende Rolle spielen können und sollen – anders als bei der Terrorabwehr. «Im Zentrum stehen hier Wissenschaftler, Mediziner, Immunologen. Und die arbeiten bereits grenzübergreifend zusammen.»
Viel Futter für Geheimdienste
Anders sieht das Carol Rollie Flynn. Die Präsidentin der US-Denkfabrik Foreign Policy Research Institute war zuvor 30 Jahre bei der CIA, darunter als Chefin der Abteilung Terrorbekämpfung. Sie findet, die Frage «hätte man in den USA nicht früher mehr wissen müssen?», werde bald gestellt werden – zu Recht.
Es zeichne sich jetzt schon ab, dass die Coronakrise die Welt verändere, Regierungen unter Druck setze und damit die internationale Lage destabilisiere: «Es gibt also viel Futter für Geheimdienstermittlungen.» Konkret etwa: «Neigt das Regime in Peking, das durch die Krise erschüttert worden sei, nun zu mehr Abenteurertum oder angesichts knapperer Ressourcen zu mehr Zurückhaltung?» Und wie reagiert der noch heftiger gebeutelte Iran?
Die USA müssten erfahren, mit was zu rechnen sei. Deshalb warnt Flynn, «keinesfalls die Milliardenetats der US-Geheimdienste zu kürzen» – obschon im Staatshaushalt Mittel zur Medizin umgeschichtet werden müssen und um einen Wirtschaftskollaps zu verhindern.
Inkster sieht auch Herausforderungen in der Coronakrise selber: «Zurzeit versuchen alle, unbedingt zu ergründen, wer bereits wie weit ist mit der Entwicklung eines Impfstoffes und Wissen abzusaugen.» Würden die Staaten Desinformationskampagnen gegeneinander hochfahren, intensiviere sich der Propagandakrieg. Besonders aktiv: China, Russland und der Iran. Die Coronakrise greift also auch aus in die Welt der Geheimdienste. In welchem Ausmass und mit welchen Folgen ist jedoch selbst unter Insidern umstritten.