Das Attentat in der Stadt Halle im deutschen Bundesland Sachsen-Anhalt hat zwei Todesopfer und zwei Verletzte gefordert. In den sozialen Medien kursierte ein Bekennervideo der Tat. SRF-Deutschlandkorrespondent Peter Voegeli erhellt die Hintergründe.
SRF News: Was weiss man gesichert über Täter und Motiv?
Peter Voegeli: Das wichtigste Beweisstück ist das Video, das der mutmassliche Täter selber hochgeladen hat. Es soll voller antisemitischer, rassistischer Wutausbrüche sein. Es geht um die Leugnung des Holocausts. Peter Neumann vom Londoner King’s College, der das Video entdeckt hat, weist auf Analogien zu den Anschlägen in Christchurch und zu dem Pamphlet des Attentäters Breivik in Norwegen hin.
Das Auto des mutmasslichen Attentäters soll mit Waffen vollgepackt gewesen sein. Was weiss man darüber?
Er hatte viele Waffen, zum Teil selbstgebastelte Sprengsätze und Molotowcocktails. Die haben zum Glück nicht alle richtig funktioniert.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, nannte es skandalös, dass die Synagoge an Jom Kippur nicht von der Polizei geschützt worden sei. Hat die Hallenser Polizei die Gefahr unterschätzt?
Der Verfassungsschutzpräsident hat dieses Jahr mehrfach betont, dass man der Gefahr des Rechtsextremismus vernachlässigt habe. Ein Stichwort ist der Mord am hessischen Regierungspräsident Lübcke, ein anderes ist der Nationalsozialistische Untergrund (NSU), der jahrelang operieren konnte und für zehn Tote, 43 Verletzte und mehrere Sprengstoffanschläge verantwortlich ist.
Die klare Grenze zwischen rechtskonservativen Ansichten und rechtsextreme Gewalt gibt es nicht mehr.
Doch es ist schwierig, die Sicherheitssituation aus der Ferne zu beurteilen. Konkret zu sagen, dass in Halle zu wenig gemacht wurde, möchte ich mir nicht anmassen.
Verkehrte der Mann in rechtsextremen Kreisen oder ist er ein Einzeltäter?
Der erwähnte Experte Neumann vom King’s College sagt, das Profilmuster weise in Halle auf einen Einzeltäter hin.
In den ostdeutschen Bundesländern gibt es viele gewaltbereite Neonazis. Ist der Boden in Ostdeutschland besonders fruchtbar für rechtsextreme Gewalt?
Ostdeutschland ist sehr heterogen, Pauschalisierungen sind deshalb immer schwierig. Doch es gibt eine Tendenz, obwohl sich solche Taten auch im Westen ereignen. Zwei Autoren wichtiger Bücher sagen, dass es in Ostdeutschland eine unbewältigte Vergangenheit, eine Art Trauma, gebe und dass gewisse Ereignisse die Gewaltbereitschaft und rechtsextreme Ideen gleichermassen geprägt hätten.
Es gibt generell eine Krise des Rechtsstaates in Deutschland. Die klare Grenze zwischen rechtskonservativen Ansichten und rechtsextreme Gewalt gibt es nicht mehr. Das sage nicht nur ich, das sagt auch der Präsident des deutschen Bundesverfassungsschutzes.
Kann man daraus den Schluss ziehen, dass Antisemitismus in Deutschland zumindest wieder tolerierbar geworden sei?
Die roten Linien haben sich verschoben. Der letzte Anschlag auf eine Synagoge ist mehrere Jahrzehnte her. Aber die jüdischen Gemeinden beklagen sich schon länger, dass zum Beispiel Juden, die eine Kippa tragen, auf offener Strasse angegriffen werden.
Die Flüchtlingskrise hat Menschen nach Deutschland gebracht, die in Ländern aufgewachsen sind, in denen Antisemitismus ganz normaler Mainstream ist.
Weiter muss man festhalten, dass die Flüchtlingskrise Menschen nach Deutschland gebracht hat, die in Ländern aufgewachsen sind, in denen Antisemitismus ganz normaler Mainstream ist. Und wenn man von den verschobenen Grenzen spricht, muss man der AFD den Vorwurf machen, dass sie rhetorisch den Nationalsozialismus zu relativieren versucht.
Das Gespräch führte Salvador Atasoy