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Historiker zu Corona Westliche Länder müssen «ein bisschen paranoider» sein

Historiker Niall Ferguson ist der Meinung, keine westliche Nation habe die Pandemie gut gemeistert. Sie hätten zu wenig forciert.

Nein, westliche Regierungen hätten diese Krise nicht gut bewältigt, sagt Niall Ferguson am Swiss Economic Forum in Interlaken. Der 57-jährige Brite meint, das grösste Versäumnis im Kampf gegen die Pandemie sei gewesen, nicht schon ganz am Anfang das Testen und das Contact Tracing zu forcieren, als sich erst wenige Personen angesteckt hatten.

Taiwan oder Südkorea hätten genau das getan. Entsprechend hätten diese Länder den Ausbruch der Krise auch gut gemeistert, so Ferguson. Es sei interessant, dass das hingegen kein westliches Land geschafft habe. Allerdings wirft er inzwischen auch Taiwan und Südkorea ein schlechtes Krisenmanagement vor.

«Opfer des eigenen Erfolges»

Das habe mit den erneuten Covid-Ausbrüchen in diesem Jahr zu tun. Die Länder seien quasi Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Weil sie das Virus anfänglich so gut im Griff hatten, sahen viele Leute keine Notwendigkeit mehr, sich impfen zu lassen.

Der Historiker und Buchautor zieht aus diesen letzten eineinhalb Jahren folgende Lehre: Man müsse sich für eine breite Palette an möglichen Krisen wappnen. Man bekomme nicht unbedingt die Krise, auf die man sich vorbereitet habe.

Cyberattacken, Cyberkrieg, ein grosser Stromausfall oder auch ein gigantischer Vulkanausbruch, der das Klima beeinflusse, wie es ihn vor rund 200 Jahren das letzte Mal gegeben habe: Laut Ferguson ist die Bandbreite an möglichen Krisen grösser, als wir es wahrhaben wollen.

Niall Ferguson trägt einen Anzug und spricht gestikulierend.
Legende: In seinem jüngsten Buch hat Ferguson alle Krisen und Pandemien der Vergangenheit aufgearbeitet – inklusive der aktuellen. Reuters

Der Star-Historiker versteht es, sich und seine Erkenntnisse schlagzeilenträchtig zu verkaufen. Er empfiehlt dem Westen: Wir müssen dringend ein bisschen mehr wie Taiwan, Südkorea oder vielleicht auch wie Israel werden. Ein bisschen paranoider.

Diese Länder seien in ständiger Angst wegen ihrer Nachbarländer. Sie seien stets gewappnet für einen möglichen Angriff. Dadurch seien diese Länder auch jederzeit bereit, auf eine Gefahr rasch zu reagieren, teils auch mit einschneidenden Massnahmen.

Mehrere Länder haben in der Pandemie kurzerhand den Datenschutz gelockert, etwa in Fernost, um das Contact Tracing voranzutreiben, oder in Israel, um das Impftempo zu beschleunigen. Ein solch unzimperliches Vorgehen stört den in den USA lebenden Briten aber offenbar nicht.

Den Einwand, das Contact Tracing untergrabe persönliche Freiheiten, wischt er vom Tisch. Klar, wenn man alle Daten ohne Einschränkung dem Staat gebe, sei das keine gute Idee. «Aber was», fragt er rhetorisch, «Was ist Ihnen lieber? Eine Contact Tracing App oder zig Wochen zu Hause praktisch eingesperrt zu sein?»

Was ist Ihnen lieber? Eine Contact Tracing App oder zig Wochen zu Hause praktisch eingesperrt zu sein?
Autor: Niall Ferguson Historiker und Autor

Für Ferguson ist klar: Ein Lockdown greift stärker in die Freiheitsrechte ein als eine Contact Tracing App. Er ist überzeugt, dass man die Verwendung sensibler Daten relativ einfach technisch einschränken könne. Wie weit solche Massnahmen in der Bevölkerung in westlichen Ländern mitgetragen würden, ist eine offene Frage. Niall Ferguson ist zuversichtlich.

Vergangenheit zeigt: Covid bleibt

Weniger zuversichtlich tönt es hingegen hinsichtlich der aktuellen Corona-Pandemie. Sie sei noch lange nicht ausgestanden. Das zeigt der Blick auf frühere Krisen. Laut Ferguson werden noch unsere Kinder und Enkelkinder mit Covid umgehen müssen.

Irgendwann werde Corona, genau wie die normale Grippe, aber von den Titelseiten der Zeitungen verschwinden. Wann das der Fall sein wird? Dazu hat Niall Ferguson beim Blick in die Geschichtsbücher keine Antwort gefunden.

Echo der Zeit, 03.09.2021, 18 Uhr

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