Am Ende der Anhörung vor der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs gab es Applaus für die Klimaseniorinnen, Bravorufe, Seifenblasen und Transparente vor dem EGMR-Sitz in Strassburg. Wie das Urteil ausfällt – es wird erst im Herbst erwartet –, ist völlig offen. Aber für die Klägerinnen und die Umweltorganisation Greenpeace, die logistisch und finanziell hinter ihnen steht, ist es bereits ein Triumph, dass sich Europas oberstes Menschenrechtsgericht mit ihrem Anliegen beschäftigt.
Die Schweizer Behörden argumentierten in Strassburg legalistisch – und scharf: Der Strassburger Gerichtshof überschreite seine Kompetenzen bei weitem, falls er sich hinter die Beschwerde der Klimaseniorinnen stellt, kritisierte der Vertreter Berns. Klar ist aus offizieller Schweizer Sicht: Einzig Individuen können Opfer der Erderwärmung sein, nicht jedoch ein Verein.
Politisches oder juristisches Problem?
Also seien die Klimaseniorinnen als Organisation gar nicht klageberechtigt. Die Schweiz beruft sich auf das Bundesgericht in Lausanne: Es wies 2020 die Beschwerde der Klimaseniorinnen ab, weil Klimamassnahmen nicht auf dem Rechtsweg, sondern politisch durchzusetzen seien.
Die Anwälte der Klimaseniorinnen wiederum begründeten ihre Sichtweise politisch. Die alten Damen seien sehr wohl individuell Opfer der Klimaerwärmung, besonders der immer häufigeren Hitzewellen. Die Schweiz versäume es, entschieden dagegen vorzugehen, obschon sie sich dazu im UNO-Klimaabkommen von Paris verpflichtet habe. Sie zitieren auch die inzwischen abgetretene UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, die in einer Stellungnahme zuhanden des EGMR forderte, angesichts der Dramatik der Lage müssten sich zwingend alle Institutionen um den Klimaschutz kümmern, auch die Gerichte. In den Niederlanden und Deutschland schaltete sich die Justiz bereits ein.
Geschichtsträchtiges Urteil in jedem Fall
Die Strassburger Richter als übergeordnete Instanz stehen nun vor der Herausforderung, in diesem politisch und juristisch hochbrisanten Fall ein Leiturteil zu fällen, das europaweit enorme Konsequenzen hätte. Der Gerichtshof würde seine Zuständigkeit erheblich erweitern, gäbe er den Klimaseniorinnen recht und erklärte den Klimaschutz als jederzeit und überall einklagbares Menschenrecht.
Will er das ganz bewusst tun? Oder will er es vermeiden? Ein solches Urteil trüge dem EGMR von der einen Seite viel Lob ein, von der anderen heftige Kritik. Er greife auf einem zentralen Politikfeld in die nationale Souveränität ein und erzwänge quasi juristisch Klimamassnahmen, die politisch nicht oder schwer durchsetzbar sind. Deshalb steht bereits jetzt fest: Wie immer das Urteil im Fall Klimaseniorinnen gegen die Schweiz ausfällt – es dürfte Geschichte machen.