Anson Chan erscheint im kleinen Sitzungsraum ihres Büros und stellt sich selbst vor. Dabei ist die bald 80-Jährige eine der bekanntesten Personen in Hongkong. Unter dem letzten britischen Gouverneur Chris Patten diente sie bis 1997 als Verwaltungschefin – sie war die höchste Beamtin der Stadt.
Peking stärkt Carrie Lam den Rücken
Ohne Umschweife kommt sie zur Sache: Zur Medienkonferenz des Büros für Hongkong- und Macau-Angelegenheiten des chinesischen Staatsrats. Das Amt mit dem etwas sperrigen Namen ist zuständig für die Hongkonger Politik der chinesischen Zentralregierung. Über Wochen blieb es still, bis heute.
«Es war erwartbar, dass das Büro die Regierungschefin Carrie Lam weiterhin unterstützt, die Gewalt verurteilt und die Polizei lobt», so Chans Reaktion. Doch langfristig würde Pekings Unterstützung Lam wenig helfen. Denn im Volk sei sie unbeliebt: «Sie hat jegliche Glaubwürdigkeit und moralische Autorität verloren. Es wird für sie immer schwieriger zu regieren.»
«Sowas hat es hier noch nie gegeben»
Nicht nur in der Bevölkerung, auch in der Stadtverwaltung verliert Lam an Rückhalt. In einer Petition verurteilen Beamte ihre eigene Regierungschefin, obwohl diese politisch neutral sein müssten. «Dass nun 100 Angestellte der Stadt öffentlich sagen, sie seien sehr unzufrieden mit der Regierung, ja sogar erbost über die Polizei – so etwas hat es hier noch nie gegeben», so Chan.
Das Prinzip ‹ein Land, zwei Systeme› wird immer weiter ausgehöhlt.
Doch was hält sie vom Vorwurf der chinesischen Seite, dass ausländische Mächte China schaden wollten? «Das ist das Lieblingsargument Pekings. Das ist doch Blödsinn!» Und doch: Auf den Kundgebungen fielen die vielen US-Fahnen auf; auch die alten Flaggen der britischen Kronkolonie Hongkong.
«Das bedeutet doch nicht, dass die Menschen sich nach der Kolonialmacht zurücksehnen», sagt Chan. «Es zeigt vielmehr die extreme Unzufriedenheit darüber, dass das Prinzip ‹ein Land, zwei Systeme› weiter ausgehöhlt wird.»
Glauben an die Zauberformel verblasst
Ein Land, zwei Systeme: Jene Formel soll Hongkong einen Sonderstatus garantieren, und zwar 50 Jahre lang, bis 2047. Vor der Übergabe Hongkongs an China warb Chan als Verwaltungschefin noch selbst für diese Formel.
Wir haben noch nicht einmal die Hälfte der 50 Jahre hinter uns, und schon verlieren wir immer mehr Autonomie.
«Damals begrüsste es Peking, dass wir im Ausland diese Formel verkauften. Dass wir unsere Handelspartner beruhigten und ihnen versicherten: Es ändert sich nur die Flagge und die Staatszugehörigkeit. Alles andere bleibt gleich. Das Leben geht weiter wie bisher.» Daran habe sie selbst geglaubt.
Sie habe geglaubt, dass sich China Hongkong anpassen würde, nicht umgekehrt. «Ich bin gleichzeitig traurig und wütend, wenn ich die heutige Situation sehe. Wir haben noch nicht einmal die Hälfte der 50 Jahre hinter uns, und schon verlieren wir immer mehr Autonomie. Umso mehr bewundere ich die vielen Jungen, die sich für ihre Rechte und Freiheiten einsetzen.»
Wahlrecht essenziell für Zufriedenheit
Sie verlangen unter anderem eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt, den Rückzug des umstrittenen Auslieferungsgesetzes und das allgemeine Wahlrecht. Darum ging es vor fünf Jahren schon bei den Regenschirm-Protesten. Ohne Erfolg, die Regierung sass die Proteste aus.
Am Wahlrecht führe kein Weg vorbei, ist Chan überzeugt. Die tiefe Unzufriedenheit in der Bevölkerung werde erst aufhören, wenn die Menschen in Hongkong selbst bestimmen dürften, von wem sie regiert würden.