Was auch immer der französische Präsident François Hollande in seiner Freizeit mit jungen Frauen unternimmt, geht uns zunächst einmal gar nichts an. Der Journalistenkodex des Schweizer Presserats schreibt Medienschaffenden vor, dieses Recht von Mitmenschen auf Privatheit sehr sorgfältig abzuwägen. Gegen jenes der Öffentlichkeit auf Informationen. Nur, sind Medien überhaupt die richtige Instanz, um moralische Kritik an einer Einzelperson zu üben?
Peter Studer findet, ja. Allerdings nur bei gravierenden Vorgängen. Der Medienethiker plädiert für den «...Unterschied zwischen dem Gwunder eines grösseren Publikums und dem Wertbegriff des Öffentlichen Interesses». Auf jeden Fall aber muss der Journalist eine Recherche im Intimbereich eines Politikers mit einem sehr starken öffentlichen Interesse legitimieren können.
Der Fall des Schweizer Ex-Botschafters Thomas Borer hat dies deutlich gemacht. Er wurde 2002 von Schweizer Medien einer Sex-Affäre bezichtigt. Peter Studer stand damals dem Schweizer Presserat vor. Die Reputationserwartung an einen Botschafter sei zu wenig gewichtig, um einen solch massiven Angriff auf seine Privatsphäre zu rechtfertigen, entschied das Gremium in jenem Fall. Verlagsleiter Michael Ringier entschuldigte sich schliesslich. Und blätterte ein hohes Schmerzensgeld hin.
Alle sind schuld an diesen Skandalen
Das berechtigte Interesse der Öffentlichkeit hat demnach viel mit Relevanz zu tun. Es gehört zu den Aufgaben von Medien, die Öffentlichkeit mit für sie bedeutungsvoller Information zu versorgen.
Dass es mit dieser Relevanz in jüngster Zeit nicht mehr weit her ist, liegt für den Berner Politologen und Politikberater Mark Balsiger an der Personalisierung. Öffentliche Personen, die gemerkt haben, dass sie für ihr Publikum glaubwürdiger werden, wenn sie ihre Statements in Gegenwart ihres Cocker Spaniels abgeben. Und eben ein Publikum, das die Emotion und die Sinnlichkeit der Sachlichkeit vorzieht.
Das habe dazu geführt, dass die Inhalte des klassischen Boulevards überdurchschnittlich oft vertreten seien. «Vieles davon ist aber schlecht recherchiert. Und das ist eine Fehlentwicklung und gleichzeitig auch meine Medienkritik», sagt Balsiger im Gespräch mit SRF News Online.
Es gibt ein Menschenrecht auf den Seitensprung
Für den Medienethiker Peter Studer liegt das Problem im immer härter werdenden Wettbewerb der Medien. Namentlich unter dem Einfluss des Online-Journalismus. Dabei gehe es stark um Interaktivität, findet Studer. Viel von der heutigen öffentlichen Empörung wird erst in der digitalen Teilnahme eines semi-anonymen Mitmachpublikums so richtig persönlichkeitsverletzend.
Eine untergeordnete Rolle spielen für den Ethiker Studer soziologische Prozesse. Es sei nicht zu übersehen, dass die Toleranz gegenüber unterschiedlichen Lebensstilen zugenommen habe, während die Verbindlichkeit von Wertagenturen wie beispielsweise der Kirche zurückgegangen sei, sagt Studer.
Und was ist nun mit Hollande?
Für den Ethiker ist klar: Auch im Fall Hollande ist eine gründliche Abwägung von Persönlichkeitsrecht und öffentlichem Interesse unabdingbar. «Es gibt ein Recht auf unkontrollierte erotische Aktivitäten», argumentiert Studer. «Ich habe das in meinen Vorlesungen schmunzelnd das Menschenrecht auf den Seitensprung genannt.» Wenn diese Aktivität aber die Möglichkeiten des Politikers, Aufgaben zu erfüllen, entscheidend behindert, dann gibt es durchaus Gründe, um über die öffentliche Relevanz nachzudenken.
Mit dieser Losung ist auch der Politologe Balsiger einverstanden. Die Verantwortung für eine gehaltvolle demokratische Auseinandersetzung liegt für ihn bei den Medien und beim Publikum. Und was würde er Hollande sagen, wenn ihn dieser um den Rat eines Kommunikationsspezialisten fragen würde?
«Die Hosen runterlassen und sagen, was Sache ist», antwortet Balsiger. Er rate seinen Kunden, «...sofort zu kommunizieren und völlig ehrlich zu sein». In der heutigen Medienwelt kann Unehrlichkeit unglaublich schnell zum Bumerang werden.