1982 zog sich Smagul Jelubaj aus der kasachischen Grossstadt Almaty aufs Land zurück. In einer menschenleeren Schlucht stellte er eine Jurte auf und begann, an einem Buch zu schreiben, von dem er wusste, dass es nie publiziert würde.
«In der sowjetischen Schule sprach man nie über den Hunger der 1930er», sagt Jelubaj, heute 77-jährig. «Dabei hiess es, wir sollten immer die Wahrheit sagen. Und ich kannte die Wahrheit über den Hunger, weil meine Eltern davon erzählten. Also musste ich das Buch schreiben.»
Kasachstan war Teil der UdSSR. Jahrhundertelang hatten Kasachen als Nomaden gelebt, waren mit ihren Viehherden in der Steppe umhergezogen. Doch mit dem ersten Fünfjahresplan sollte das Land industrialisiert werden, die Menschen in Fabriken oder Kolchosen arbeiten (landwirtschaftliche Grossbetriebe in der Sowjetunion, die genossenschaftlich organisiert waren). Die Sowjets in Moskau hielten nomadische Viehzüchter für rückständig. Ab 1931 zogen die Behörden das Vieh der kasachischen Nomaden massenweise ein und transportierten es in Schlachthöfe in Russland.
«Das Vieh war ihre Kleidung, ihr Fleisch, ihr Transportmittel», sagt Smagul Jelubaj. «All das nahm man den Nomaden weg. Und von der sesshaften Landwirtschaft hatten sie keine Ahnung. Es war eine Katastrophe.» Auf einen Schlag hatten Millionen Kasachinnen und Kasachen nichts mehr zu essen. Tausende flüchteten mit ihrem Vieh in andere Sowjetrepubliken oder nach China.
Smagul Jelubaj wurde in Turkmenistan geboren, wo sich seine Eltern in Sicherheit gebracht hatten. Auch sie gaben das Nomadenleben schliesslich auf. Jelubaj wuchs in der Stadt auf, wurde Journalist und Schriftsteller.
Von Wölfen gefressen
Doch die Geschichte seiner Eltern und das Schweigen dazu in der sowjetischen Gesellschaft beschäftigten ihn. Anfang der 1980er-Jahre fing er an, in Kasachstan herumzureisen. Er traf Überlebende der Hungersnot, schrieb Erinnerungen nieder.
«Für sie war es sehr schwer, darüber zu reden», sagt Jelubaj. Die Leute erzählten von Eltern, die ihre zu schwachen Kinder zurücklassen mussten, von Kannibalismus, von Wolfsrudeln, die in der Steppe Menschen anfielen, weil auch sie ohne das beschlagnahmte Vieh hungerten. «Die Leute verhungerten in der Steppe und es gab niemanden, um sie zu beerdigen», sagt Smagul Jelubaj. «Ihre Leichen wurden von wilden Tieren gefressen. Für Muslime ist das das Schlimmste.»
All diese Geschichten goss Smagul Jelubaj in seinen Roman über die kasachische Hungersnot, «Die einsame Jurte». Als er 1987 mit dem Buch aus seiner Schlucht in die Stadt zurückkehrte, war eine Publikation aussichtslos. Doch vier Jahre später zerfiel die Sowjetunion – und das Schweigen brach.
Historikerinnen und Historiker konnten nun zeigen, dass zwischen 1.5 bis 2.3 Millionen Menschen verhungert waren – ein Drittel aller ethnischen Kasachinnen und Kasachen. Die kasachische Nomadenkultur war ausgelöscht.
Das Trauma der Hungersnot wirkt in Kasachstan bis heute nach. Im nationalen Gedächtnis hat sie einen ähnlichen Status wie der Holodomor in der Ukraine.
Im Westen ist die kasachische Hungersnot heute kaum bekannt, anders als der Holodomor. Das hat auch damit zu tun, dass Kasachstans Politiker den Kreml nicht verstimmen wollen, der die sowjetische Geschichte ganz anders sieht. Smagul Jelubaj findet, man müsse Russland zur Verantwortung ziehen. Die Ukraine ist ihm dabei ein Vorbild.