Lower Manhattan, New York. Bei einer Essensausgabestelle bildet sich eine lange Schlange. Auch der 33-jährige Ecuadorianer Michael wartet geduldig, bis er an der Reihe ist. Er ist seit eineinhalb Monaten in New York. Warum gerade New York, das frage er sich manchmal auch, sagt er, doch es sei der erste Gedanke, den Immigrantinnen und Immigranten hätten.
Michael ist illegal über die Südgrenze in die USA gekommen. Nach einer wochenlangen, beschwerlichen und gefährlichen Reise durch acht verschiedene Länder. Der schlimmste Abschnitt sei der tagelange Marsch durch den Darién-Dschungel gewesen zwischen Kolumbien und Panama, erinnert er sich: «Man muss viele Flüsse überqueren, und wenn sie anschwellen, ertrinken Menschen. Man sieht, wie sie sterben, und kann nichts tun, um sie zu retten, und muss sie zurücklassen.»
Wir riskieren, erpresst oder entführt zu werden. All das, um hierherzukommen. Das ist der amerikanische Traum.
Einmal in Zentralamerika angekommen, drohen neue Gefahren. «Wir riskieren, erpresst oder entführt zu werden. All das, um hierherzukommen. Das ist der amerikanische Traum», sagt Michael. Er ist dankbar dafür, am Leben zu sein, ein Dach über dem Kopf zu haben, ein Zimmer in einer Sozialwohnung, und Essen zu bekommen bei der Hilfsorganisation Bowery Mission.
«Eine solche Krise haben wir noch nie erlebt»
Sozialarbeiter Karl Chen sagt, mittlerweile würden sie über 1000 Mahlzeiten am Tag herausgeben. Das seien fast doppelt so viele wie vor einem Jahr. Der sprunghafte Anstieg habe sie überrumpelt. Die Bowery Mission sei seit fast 150 Jahren für Obdachlose und Bedürftige in New York da. Doch so eine Situation habe man noch nie erlebt. Karl Chen spricht von einer Krise.
Die NGO bietet auch Unterstützung an bei alltäglichen Problemen. Da neu auffällig viele spanisch Sprechende ihre Dienste in Anspruch nehmen, musste sie zusätzliche Übersetzerinnen und Übersetzer anstellen. Trotz aller Schwierigkeiten – in politische Debatten wollten sie sich nicht verlieren. Sie müssten einfach handeln, sagt Karl Chen.
Bürgermeister schlägt Alarm
Anders sieht das der Bürgermeister von New York, Eric Adams. Der Demokrat sieht sich im Stich gelassen vom Weissen Haus. Schon vor Wochen beklagte er sich an einer Bürgerversammlung über die fehlende Unterstützung in dieser nationalen Krise ohne absehbare Lösung.
Über 130'000 Immigrantinnen und Immigranten sind im letzten Jahr nach New York gekommen und jeden Monat kommen über 10'000 weitere dazu. Eric Adams schätzt, dass dies die Stadt 12 Milliarden Dollar kosten werde über die nächsten drei Jahre. Geld, das an anderen Orten fehle und diese Stadt zerstöre. Wütend ist Eric Adams auch auf den republikanischen Gouverneur von Texas, auf Greg Abbott, der den Immigrantinnen und Immigranten gratis Busreisen nach New York anbietet.
Traumdestination New York
Mit einem solchen Bus ist auch die Venezolanerin Darmelis mit ihren beiden Töchtern nach New York gekommen. «Verlässt man die Einwanderungsbehörde an der Grenze, gibt es diese Busse nach New York», sagt sie. «Diese Gelegenheit der Gratisbusse liessen wir uns nicht entgehen.» Dazu komme, dass sie schon auf dem Weg von Venezuela in die USA davon gehört habe, dass man in New York mit offenen Armen empfangen werde und einem besser geholfen werde als in anderen Bundesstaaten.
Bürgermeister Eric Adams versucht schon fast verzweifelt, dieses Narrativ zu korrigieren. Kürzlich reiste er nach Ecuador, um vor Ort zu verkünden, dass es sich nicht lohne, nach New York zu kommen. Tatsache ist, dass es in New York ein Gesetz gibt, wonach alle Anspruch auf einen Schlafplatz haben.
Längst reichen Wohnungen und Sozialeinrichtungen nicht mehr. Etwas ausserhalb von Manhattan wurde eine Zeltstadt errichtet und Familien wie Darmelis mit ihren beiden Töchtern werden in leerstehenden Hotels untergebracht. Die Venezolanerin hofft, Asyl zu bekommen.
Angst vor dem Winter
Weniger gute Aussichten hat Michael. Asylanträge aus Ecuador werden zu rund 90 Prozent abgelehnt. Dazu kommt, dass der Bürgermeister den Aufenthalt in New York zeitlich beschränken will. Davon habe er gehört, sagt Michael, es bestehe diese Unsicherheit, abgeschoben zu werden.
Vor der Kälte und dem Schnee habe ich richtig Angst.
Gosse Sorgen bereitet ihm auch der bevorstehende Winter. Michael trägt schon jetzt eine dicke Winterjacke, obwohl es noch gar nicht wirklich kalt ist. «Vor der Kälte und dem Schnee habe ich richtig Angst», sagt er. Doch er versucht positiv zu bleiben und denkt an die Möglichkeit, allenfalls mit Schneeschaufeln etwas Geld verdienen zu können.
Die tiefen Temperaturen werden die ohnehin schon angespannte Situation der Immigrantinnen und Immigranten in New York verschärfen. Bürgermeister Eric Adams warnt Neuankömmlinge, die Stadt sei voll und sie riskierten, auf der Strasse schlafen zu müssen. Als neuste Massnahme finanziert die Stadt gratis Einwegflugtickets an eine andere Destination nach Wunsch. Eine Lösung des Problems ist dies allerdings auch nicht.