Vor dem nationalen Statistikamt der Türkei herrscht Gerangel. Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu will das Amt besuchen, um sich über die Inflation zu informieren. Doch die Behörde hat das Eingangstor verschlossen und lässt ihn nicht herein.
Offensichtlich habe die Regierung hier etwas zu verbergen, beschwert sich der Oppositionspolitiker der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP. «Heute Morgen hat dieses Amt die Inflation mit 3.5 Prozent im Monat und 21 Prozent im Jahr angegeben. Ich frage alle Bürger im Land, wenn ihr einkaufen geht, wenn ihr Strom nutzt, wenn ihr mit Gas heizt: Kommt das euch realistisch vor? Die Regierung frisiert hier die Zahlen.»
Andere Statistiker kommen jedenfalls zu anderen Ergebnissen. Etwa das Planungsamt der von der Opposition regierten Stadt Istanbul. Nach Berechnungen des Amtes hat sich das Leben in der Metropole im vergangenen Jahr um durchschnittlich 50 Prozent verteuert.
Um die galoppierende Inflation aufzuhalten, müsse die Zentralbank die Zinsen anheben, um das Geld zu verknappen, drängen Wirtschaftsexperten seit Monaten. Doch Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat andere Vorstellungen und lässt die Zinsen ständig weiter senken.
Der Opposition bietet er damit Angriffsfläche. Vor allem der scharfzüngigen Vorsitzenden der rechtsnationalen Iyi-Partei, Meral Aksener. «Ohne rot zu werden, erzählt dieser Mann, dass Zinsen die Ursache seien und Inflation die Wirkung. Er hält den Regenschirm für die Ursache und den Regen für die Wirkung. Jedes Mal, wenn er so ahnungslos daherredet, fällt die Lira und steigt die Inflation und unser Volk verarmt weiter.»
Jedes Mal, wenn Erdogan so ahnungslos daherredet, fällt die Lira und steigt die Inflation und unser Volk verarmt weiter.
Jedem der 83 Millionen Staatsbürger sei durch den Verfall der Lira und den Anstieg der Staatsverschuldung binnen einer Woche Geld in Höhe von mehreren Mindestlöhnen aus der Tasche gezogen worden, rechnete Aksener im Parlament vor. «Und was macht unsere Regierung? Sie sagt, wir sollen weniger Fleisch essen und frisches Gemüse sei im Winter ohnehin ungesund. Diese grossen Ernährungsexperten.»
Und wenn die Menschen sich beschweren würden, dass die Gaspreise binnen eines Monats viermal erhöht werden, würde die Regierung sagen, wir fahren einen neuen Wirtschaftskurs. «Diese grossen Navigationsexperten und der renommierte Wirtschaftsexperte Erdogan persönlich. Was soll ich sagen? Gott, hilf uns!», sagt Aksener.
Die kämpferische Oppositionspolitikerin beschwört oft Gottes Segen. Sie zielt damit bewusst auf die Wähler der Regierungskoalition, zu der neben der islamisch-konservativen AKP von Erdogan auch die rechtsnationale MHP gehört. Akseners Partei ist seit ihrer Gründung vor zwei Jahren auf 15 Prozent hochgeschossen.
Oppositionspartei Deva auf der Erfolgsspur
Im Kommen ist auch die neue Oppositionspartei Deva des früheren Wirtschaftsministers Ali Babacan, der Erdogans Niedrigzinskurs so analysiert: «Wachstum nach chinesischem Vorbild nennt Erdogan das. Und damit meint er, Arbeitskraft verbilligen, den Schweiss unserer Arbeiter entwerten, unser Volk unter Billiglöhnen erdrücken, bis es den Kopf nicht mehr heben kann. Auf so ein Wachstum pfeifen wir.»
Babacans Partei kommt in den Umfragen neuerdings auch auf über 5 Prozent, mit denen er voraussichtlich das Oppositionsbündnis unterstützen würde. Und das überholte in den Umfragen jetzt erstmals die Regierungskoalition. Bis zu den nächsten Wahlen sind es allerdings noch eineinhalb Jahre. Erdogan setzt alles darauf, dass der wirtschaftliche Aufschwung bis dahin einsetzt und er am Wahltag wieder im Aufwind ist.