Täglich prasseln russische Falschnachrichten auf Europa ein: Lügen über Politiker auf den sozialen Medien, Kriegspropaganda, Verschwörungstheorien. Der Kreml nutze Information als Waffe, sagt Jakub Kalensky. Er war von 2015 bis 2018 der EU-Verantwortliche für den Kampf gegen russische Desinformation.
Heute warnt er: Europas Behörden würden zu langsam reagieren. Die Russen seien dem Westen im Informationsraum voraus und bauten ihren Vorsprung aus.
SRF News: Befinden wir uns in einem Informationskrieg?
Jakub Kalensky: Russland sagt das explizit. Europa nennt das nicht so.
Wie führt Russland diesen Informationskrieg?
Desinformation beginnt im Kreml und ist pyramidenförmig aufgebaut. Präsident Putin und hohe Minister verdrehen in Ihren Reden systematisch Tatsachen. Die Armee und verschiedene Departemente verbreiten das Narrativ weiter. Zum System gehören auch die Staatsmedien und prorussische Pseudo-Journalisten im In- und Ausland. Troll-Fabriken teilen die Propaganda online.
Was ist das Ziel?
Das Hauptziel ist es, den Westen zu schwächen. Russland bespielt beliebige Themen mit Desinformation, solange diese das Potenzial haben, im Westen Kontroversen zu befördern. In den USA spaltet etwa das Thema Rassismus, in Europa eignet sich oft das Thema Migration. Wie ein böser Doktor, der den Patienten diagnostiziert und gezielt kränker macht.
Wenn russische Panzer in Zürich stehen, reagiert die Schweiz. Bei russischen Lügen nicht.
Die falschen oder tendenziösen Geschichten im Internet oder prorussischen Medien sollen polarisieren, Extremparteien stärken und das Misstrauen in die westlichen Institutionen untergraben. Denn in der aussenpolitischen Doktrin des Kremls gewinnt Russland, wenn der Westen streitet.
Tut Europa genug?
Nein. Die Russen geben mehrere Hunderte Mal mehr aus als wir. In Russland arbeiten Tausende und Abertausende im Propagandaapparat. Fast täglich registriert die EU mittlerweile Falschnachrichten, die den Weg aus Russland in unsere öffentlichen Debatten finden.
Europa macht zwar mehr als früher. Nur müssen die Staaten noch deutlich mehr Geld ausgeben. Denn die Russen bewegen sich schneller als wir.
Mit der Abwehr beschäftigen sich in Europa bloss ein paar Dutzend Experten hier, ein paar Dutzend da. Desinformation ist für Russland kosteneffektiv, weil es unter der Eskalationsschwelle liegt. Wenn russische Panzer in Zürich stehen, reagiert die Schweiz. Bei russischen Lügen nicht.
Warum tut Europa nicht mehr?
Bürokratien reagieren häufig träge auf neue Formen von Gefahren. Oft ist nicht klar, welches Ministerium zuständig ist. Zudem ist die Bekämpfung kostspielig und die Schäden nicht sofort erkennbar. Einzelne Falschinformationen schaden der Demokratie nicht unbedingt sofort – kumuliert aber sehr wohl. Die prorussischen Erzählungen etwa über den Ukraine-Krieg verfangen mit der Zeit im Bewusstsein vieler Menschen.
Was gäbe es zu tun?
Zunächst muss das Monitoring ausgebaut werden. Stellen Sie sich vor, Sie wollen ein Virus bekämpfen, das sich langsam über die Bevölkerung legt, ohne zu wissen, wie viele Leute ihm bereits ausgesetzt waren.
Der Staat muss seine Positionen und Leistungen zudem offensiv erklären, um das Vertrauen in die Institutionen zu stärken. Die Medienkompetenz der Bevölkerung, kritisches Lesen etwa, muss im Bildungswesen gefördert werden.
Europa muss Russlands Handlungsfähigkeit aber auch einschränken – etwa durch Sanktionen. Länder in Osteuropa sperren beispielsweise konsequent russische Pseudo-Medien. Europa macht zwar mehr als früher. Nur müssen die Staaten noch deutlich mehr Geld ausgeben. Denn die Russen bewegen sich schneller als wir. Ich fürchte, Russland baut seinen Vorsprung im Informationskrieg aus.
Das Gespräch führte Benedikt Hofer.