Vor 100 Tagen begannen die ersten Demonstrationen in Sri Lankas Hauptstadt Colombo gegen die Versorgungslage im Land und gegen die Wirtschaftspolitik der Regierung. Die daraus gewachsene Protestbewegung hat inzwischen den Rücktritt des Premierministers erzwungen. Und vor einer Woche wurde der Präsidentenpalast gestürmt und Präsident Gotabaya Rajapaksa in die Flucht geschlagen.
Geblieben sind aber die riesigen Probleme, vor denen Sri Lanka steht: ein bankrotter Staat, dem es an fast allem fehlt, von Nahrungsmitteln, Treibstoff bis zu Medikamenten. Stefan Winkler in Colombo berichtet über die Lage im Land.
SRF: Wie ist die Stimmung unter der Bevölkerung?
Stefan Winkler: Die Strassen sind fast leer. Dafür gibt es lange Schlangen von Autos und Rikschas vor Tankstellen. Sie warten dort tagelang, um Benzin oder Diesel zu bekommen. Die meisten benützen ein Fahrrad.
Inzwischen sind auch einige Nahrungsmittel rationiert. Zudem sind die Preise massiv gestiegen. Was heisst das für die Bevölkerung?
Viele Menschen können sich nur noch zwei Mahlzeiten am Tag leisten. Das liegt auch daran, dass lokale Produkte nicht mehr in die Städte kommen, weil es eben keinen Treibstoff mehr gibt. Dazu kommt die extreme Teuerung bei Nahrungsmitteln.
Wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung aus?
Das ist eine Katastrophe. Es fehlt nicht nur an Medikamenten, weil Devisen fehlen. Auch Krankenhäuser haben zum Teil auf Notbetrieb umgestellt, weil Angestellte nicht mehr zu ihren Arbeitsplätzen fahren können. Dazu kommt noch, dass auch andere Wirtschaftszweige darnieder liegen. Durch die täglichen langen Stromausfälle kommt es zu Produktionsausfällen. Internationale Firmen schauen sich darum nach anderen Erzeugerländern um. Und der ganz wichtige Wirtschaftsbereich, der Tourismus, der sich seit letzten Oktober nach der Pandemie erholt hat, ist jetzt wieder zusammengebrochen.
Diese Probleme lassen sich ja nicht innert ein paar Wochen lösen. Sind sich das die Menschen in Sri Lanka bewusst?
Ja, das spricht sich herum. Es gibt die Forderungen nach politischer Veränderung, aber wer auch immer das sein wird, wird vor dieser grossen Herausforderung stehen. Und es wird auch nicht in wenigen Monaten zu einer spürbaren Verbesserung kommen.
Derzeit liegt ja die formale Macht bei Ministerpräsident Ranil Wickremesinghe. Er hat gute Chancen, als Übergangspräsident gewählt zu werden. Was halten die Leute von ihm?
Die Menschen, mit denen ich im Gespräch bin, äussern sich so, dass Wickremesinghe das alte Regime vertritt und nicht als Mann des Aufbruchs wahrgenommen wird. Es gibt aber auch Stimmen, die sagen, wir brauchen an der Staatsspitze einen erfahrenen Politiker, der international Verhandlungen führen kann.
Bei der Protestbewegung haben sich gesellschaftliche Gruppen vereinigt, zwischen denen sonst Spannungen herrschen, etwa Singhalesen und Tamilen, aber auch Buddhisten und Muslime. Jetzt, wo die alte Führung weg ist, kann diese Einheit wieder zerfallen?
Ja, das ist eine Gefahr. Wobei viele Kritiker der Regierung sagen, dass wirtschaftlichen Reformen auch politische Reformen erfolgen müssen. Dazu zählt eine Verbesserung der Menschenrechtssituation, Rechtsstaatlichkeit und dass man gegen Diskriminierungen der religiösen und ethnischen Minderheiten konsequent vorgeht. Diese Forderungen bleiben auf jeden Fall weiter auf dem Tisch und die Umsetzung dieser Forderungen wird ja auch international gefordert.
Das Gespräch führte Matthias Kündig.