Tag für Tag werden in Ägypten laut Amnesty International (AI) drei bis vier Menschen von Sicherheitskräften willkürlich verschleppt. Sie verschwinden für Tage oder Monate und werden gefoltert. Seit Anfang vergangenen Jahres habe die Zahl der Menschenrechtsverletzungen in Ägypten massiv zugenommen, heisst es in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation.
Kampf gegen Terror als Vorwand
Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung gehe der ägyptische Geheimdienst rücksichtslos gegen Studenten, politische Aktivisten und Demonstranten vor, um sie zum Schweigen zu bringen. Viele der Festgenommenen würden für Monate weggesperrt, ohne Angehörige zu informieren, heisst es weiter. In einigen der 17 Fälle, die AI detailliert nachgezeichnet hat, hätten die ägyptischen Sicherheitskräfte auch versucht, mit Elektroschocks, Schlägen und Vergewaltigung, Geständnisse zu bekommen.
Betroffen sind häufig junge Leute, wie Nahost-Korrespondent Philipp Scholkmann sagt. Ihnen werde vorgeworfen, mit den verbotenen Muslimbrüdern zu sympathisieren. Aber es trifft nicht nur Islamisten oder mutmassliche Islamisten. Jede Person, die Kritik am Regime übe, riskiere, vom Repressionsapparat gekidnappt zu werden, heisst es im Bericht. «Amnesty sagt sogar, dass diese Verschleppungen und Folterungen ein zentrales Instrument der staatlichen Unterdrückungspolitik geworden seien», so Scholkmann.
Auch Kinder als Staatsfeinde verfolgt
Teilweise werden in Ägypten auch Kinder im Alter von 14 Jahren entführt. Im Bericht sind fünf Fälle dokumentiert, darunter der Fall eines 14-jährigen Schülers aus Kairo, der mitten in der Nacht aus der elterlichen Wohnung verschleppt und tagelang gefoltert und vergewaltigt wurde.
Laut Nahost-Korrespondent Philipp Scholkmann gibt es aber auch viele andere Beispiele aus den letzten zwei Jahren, wie Kinder oder Halbwüchsige ins Visier der ägyptischen Sicherheitsmaschinerie gekommen sind. Sie seien vielleicht nicht gefoltert, aber als angebliche Staatsfeinde verhaftet worden. Amnesty spricht von einem System, das unter dem Titel des Kampfs gegen den Terror ein allgemeines Klima der Einschüchterung schaffen solle. Deshalb machten die Staatsorgane auch vor Minderjährigen nicht Halt, sagt Scholkmann.
Ägypten weist Vorwürfe von sich
Amnesty schätzt, dass im Gefängnis des Geheimdienstes in Kairo hunderte Menschen festgehalten werden. Der ägyptischen Justiz wirft die Menschenrechtsorganisation vor, die Praktiken mitzutragen und durch falsche Angaben in den Unterlagen zu decken.
Seit dem Sturz des Islamisten Mohammed Mursi, des ersten demokratisch gewählten Präsidenten, im Juli 2013 wurden Amnesty zufolge mindestens 34‘000 Menschen nach unfairen oder ohne Gerichtsverfahren inhaftiert. Hunderte Menschen wurden zum Tode verurteilt. Die ägyptische Regierung hatte immer wieder erklärt, dass die Sicherheitsbehörden niemanden verschleppten und sie sich an die rechtlichen Rahmenbedingungen hielten.
Einschätzung des AI-Berichts
Nahost-Korrespondent Scholkmann schätzt den Ägypten-Bericht von Amnesty International dennoch als glaubwürdig ein. «Wenn man in Ägypten mit Menschenrechtsaktivisten spricht, hört man immer wieder von solchen Beispielen.» Man treffe auch Menschen, die Angehörige vermissten und alles versuchten, um herauszufinden, wo sie festgehalten würden.
Scholkmann zufolge räumt sogar die staatliche Menschenrechtsbehörde ein, dass solche Verschleppungen vorkommen. «Das ganze Klima der Repression in Ägypten ist gut dokumentiert. Was Amnesty beschreibt, ist nur ein besonders schockierender Aspekt in einer ganzen Reihe von Repressionsmassnahmen.»