SRF News: Vassilis Tsianos, Sie waren für ihre Arbeit schon auf der ganzen Welt unterwegs. Was ist Ihr Eindruck: Haben eigentlich alle Migranten ein Handy?
Vassilis Tsianos: In der Regel ja. Mobile Kommunikationstechnologien und Smartphones trifft man bei mobilen Gemeinschaften von Geflüchteten immer wieder an. Wenn nicht bei jedem, dann bei fast jedem.
Wozu dienen diese Geräte ihnen genau?
Erstens haben die Handys eine sehr emotionale Funktion. Sie bieten die Möglichkeit, jederzeit mit der Familie zu sprechen, Kontakt aufzunehmen. Ein anderer Aspekt ist der finanzielle: Handys, in der Regel auch teurere Modelle, sind eine kleine, mobile Bank. Wie wenn wir eine goldene Uhr tragen würden, wenn wir eine grosse Reise ins Unbekannte machen würden. Womit wir im Stande wären, sie zu verkaufen, falls es nötig wäre.
Man kann das Handy wie eine Hypothek hinterlassen, bekommt dafür Geld und kann es später irgendwann wieder abholen. Und das Allerwichtigste: Es ist ein Überlebensinstrument – und ein Selbstschutzinstrument im Umgang mit Schleppern. Smartphones sind dazu da, dass die Migranten die Möglichkeit haben, selber zu kontrollieren, wo sie gerade sind. Wir haben zum Beispiel sehr oft Situationen, in denen Schlepper syrischen Flüchtlingen versprochen haben, dass sie sie nach Italien bringen. Tatsächlich setzten sie sie aber in Istanbul ab. Mit dem Handy sind die Flüchtlinge nicht auf falsche Informationen angewiesen.
Wie funktioniert der Zahlungsverkehr via Handy?
Fast alles, was mit Migration und illegalen Grenzübertritten zu tun hat, wird über Handys abgewickelt. Sie müssen sich vorstellen, dass geflüchtete Personen versuchen, so wenig Bargeld wie möglich bei sich zu haben, damit sie unterwegs nicht beklaut werden.
Mit Handy werden auch die Schlepper bezahlt. Diese erhalten das Geld von den Familienmitgliedern in den Herkunftsländern erst, nachdem die Person dort anruft und sagt, sie sei heil angekommen. Dann kann der Schlepper bezahlt werden. Und per Handy kann man erfahren, wo die nächste Filiale der Western Union Bank ist, wo man mit einem entsprechenden Code, der über Handy übermittelt wird, auch Geld abholen kann.
Sie schreiben in ihrem Buch: Migranten sind – wie alle Menschen, die viel unterwegs sein müssen – digitale Vorreiter. Ist das wirklich so?
Ja, man ist viel weiter. Und das aus ganz pragmatischen Gründen. Junge, ambitionierte Männer und Frauen aus der unteren oder mittleren Mittelschicht der jeweiligen Länder sind bestens vertraut mit modernen Kommunikationstechnologien. Ausserdem: In vielen asiatischen und vor allem in afrikanischen Ländern gibt es keine entwickelten Festnetze. So sind die Menschen von Kindheit an mit digitalen Kommunikationsmitteln konfrontiert und können mit Handys umgehen.
Kann man sagen, dass das Handy überhaupt der wichtigste Gegenstand ist auf der Flucht?
Ja, eindeutig. Es gibt extra kleine Leder- oder Plastiktüten, die absolut dicht sind. Nicht damit die Papiere nicht nass werden, sondern zum Schutz der Handys.
Wenn das Handy so wertvoll ist, besteht dann nicht die Gefahr, dass es von den Schleppern oder anderen Menschen geklaut wird?
Das ist die grösste Gefahr. Deshalb hat man beobachtet, dass die Migranten oft zwei Handys benutzen. Eines von besserer Qualität für wichtige Aufgaben wie die Lokalisierung anhand von GPS-Koordinaten, für das Herunterladen von bestimmten Karten und Apps. Und noch ein ganz einfaches, auf das man auch verzichten kann. In der Regel werden sie von den Schleppern und auch von Grenzpolizisten beschlagnahmt, obwohl das illegal ist. Ich bin in Griechenland und Bulgarien sehr oft Zeuge davon gewesen.
Warum sorgen Flüchtlinge mit Smartphones bei uns häufig für diskriminierende Reaktionen? Weil es bei uns ein Statussymbol ist?
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Ja. Ich bin in grosse Verlegenheit geraten, als ich mit dieser Frage konfrontiert wurde. Weil es für mich überhaupt nicht denkbar war, überhaupt auf die Idee zu kommen, auf diese Weise sozialen Neid zu adressieren.
Es gibt zwei Gründe. Der erste: Es ist ein Zeichen dafür, dass die sesshafte europäische Bevölkerung offensichtlich im Umgang mit digitalen Medien etwas aussergewöhnliches sieht. Deshalb ist die Nutzung tendenziell marginalisiert und man fühlt sich provoziert. Der zweite Grund: Es hat eine Geschichte. Denn egal was für Objekte sich die Migranten aneignen: Sie gelten als potenzielle Kriminelle und Abweichler von der Norm. In den 50-ern und 60-ern waren es die teuren Autos, danach die goldenen Ketten und schliesslich die Handys. Entlang der Nutzung des Konsumartikels kann man auch die Form der Aggression nachskizzieren.
Das Gespräch führte Samuel Wyss.