SRF: Im Vorfeld sah es nach einem viel knapperen Ausgang aus. Jetzt sagen 55 Prozent Nein zur Unabhängigkeit Schottlands. Hat am Schluss die Angst gesiegt bei den Abstimmenden?
Roland Sturm: So kann man es wahrscheinlich sagen. Vermutlich haben sich die unentschiedenen Wähler in der Wahlkabine im letzten Moment entschieden, die ökonomischen Nachteile höher zu werten, als Versprechen und Erwartungen, die sie mit der Unabhängigkeit verbunden hätten.
Die Wahlbeteiligung war mit über 80 Prozent äusserst hoch. Wie bedeutend ist dies?
Sie wird einerseits eine Rolle spielen, wenn es darum geht zu bewerten, ob das Ergebnis verbindlich ist. Es ist ja immer eine Streitfrage, wie weit ein Ergebnis akzeptiert werden kann. Alle Seiten werden es aber akzeptieren müssen. Andererseits bedeutet diese Mobilisierung aber auch, dass das Thema immer noch auf der Tagesordnung ist.
Heute Morgen sagten diverse Experten in Grossbritannien, dieses Referendum habe Schottland und das Vereinigte Königreich für immer verändert. Stimmen Sie dem zu?
Ja. Zum einen hat die Nein-Kampagne versprochen, Schottland werde viele neue Rechte bekommen – etwa im Sozialbereich oder im Steuerhaushalt. Das wird das restliche Land verändern, denn es wird ein Ungleichgewicht geben: viele Rechte für Schottland, sehr wenige Rechte für andere Landesteile. Das kann auf Dauer nicht gut gehen. Vielleicht steuern wir schlussendlich auf eine föderale Lösung zu.
Was bedeutet das Resultat für den Leader der Separatistenführer Alex Salmond?
Schottland hat etwas erreicht und wird nun mehr bekommen: So wird Salmond das Ergebnis verkaufen. Diese Idee für mehr Rechte war eine der Optionen, die die schottische Nationalpartei hatte. Diese Möglichkeit musste allerdings wegfallen, als das Referendum erlaubt wurde. Der britische Premierminister hatte darauf bestanden, dass nur über ja oder nein abgestimmt werden darf. Salmond wird wahrscheinlich sagen, dass dies nur der erste Schritt sei und er weiter kämpfen werde.
Und was bedeutet es für die britische Regierung von David Cameron?
Auch Cameron wird das Ergebnis als Sieg verkaufen. Er kann sagen, er habe das Land zusammengehalten. Die Frage wird aber sein, wie viel er zu geben bereit ist. Das ist innerparteilich wahrscheinlich umstritten. Falls Cameron tatsächlich ein Referendum zum Austritt Grossbritanniens aus der EU durchführt, werden die Schotten die Chance sicher nochmals ergreifen. Sie werden sagen, dass sie in der EU bleiben wollen und dann könnten sie wieder über ihre Unabhängigkeit reden.
Es scheint, als würde die grosse Arbeit jetzt erst beginnen. Wie geht es denn nun weiter?
Konkret muss nun entschieden werden, welche Steuern Schottland bekommen soll: Was ist mit den Finanzzuweisungen oder mit dem Gesundheitsdienst? Für diese Entscheidungen muss das britische Parlament die Mehrheiten bekommen. Die anderen Regionen Grossbritanniens, besonders Wales, aber auch die Regionen im Norden Englands werden sich benachteiligt fühlen und nicht akzeptieren, dass sie weniger Rechte als die Schotten haben. Dieses Ungleichgewicht aufzufangen, wird die Herausforderung der britischen Politik sein. Es gibt noch viel zu tun.
Das Interview führte Anna Lemmenmeier.
Die Bilder nach dem «Nein»
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Bild 1 von 13. Die Entscheidung ist gefallen: Schottland bleibt Teil Grossbritanniens. Wie hier in der Zentrale der Unabhängigkeitsgegner in Glasgow brach am frühen Morgen überall im Nein-Lager Jubel aus. Bildquelle: Reuters.
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Bild 2 von 13. Jubel und Trauer aber liegen in dieser Nacht nah beieinander. Auf dem George Square in Glasgow sind Tausende untröstlich, dass sie die Abstimmung verloren haben. Bildquelle: Reuters.
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Bild 3 von 13. Die Befürworter der Unabhängigkeit hatten gekämpft bis zum Schluss. Ein Trost: Der britische Premier David Cameron hat ihnen bereits mehr Rechte zugesagt. Im Bild: Eine traurige junge Frau aus dem Ja-Lager in Edinburgh. Bildquelle: Reuters.
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Bild 4 von 13. «Das Volk hat gesprochen und das Resultat ist klar», sagte Premier Cameron in einer ersten Reaktion am Morgen nach der Abstimmung. Er kündigte bereits für Januar einen Gesetzentwurf an, der eine erweiterte Autonomie für Schottland regeln soll. Bildquelle: Reuters.
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Bild 5 von 13. Er gehört zu den Gewinnern der Abstimmungsnacht: Alistair Darling. Der Labour-Politiker und ehemalige britische Schatzkanzler hatte die Kampagne für den Verbleib im Vereinigten Königreich angeführt. Er zeigte Verständnis für die Enttäuschung der Unabhängigkeitsbewegung. Es sei jetzt wichtig, das geteilte Land wieder zusammenzubringen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 6 von 13. Er hingegen ist der grosse Verlierer: Schottlands First Minister Alex Salmond hatte an vorderster Front für ein unabhängiges Schottland gekämpft. Bildquelle: Reuters.
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Bild 7 von 13. Sie stimmten «Nein»: Am Hauptsitz der «Better Together Campaign» in Glasgow freuten sich die Referendums-Gegner. Bildquelle: Reuters.
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Bild 8 von 13. Sie harrten die ganze Nacht aus – umso grösser war die Erleichterung am frühen Morgen. Bildquelle: Reuters.
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Bild 9 von 13. Nach dem errungenen Sieg ist erst einmal ein Nickerchen angesagt. Bildquelle: Reuters.
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Bild 10 von 13. Ein Ja zur Unabhängigkeit hätte die politische Landkarte Europas durcheinandergewirbelt, so viel steht fest. Auch an den Märkten wäre die Unsicherheit wohl zunächst gross gewesen. Dass Schottland nun beim Vereinigten Königreich bleibt, gab am Morgen nach der Abstimmung dem britischen Pfund Auftrieb. Im Bild: Eine Unabhängigkeitsgegnerin in Glasgow. Bildquelle: Reuters.
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Bild 11 von 13. Die Unabhängigkeitsbefürworter – im Bild zwei von ihnen in Edinburgh – räumten ihre Niederlage unumwunden ein. Insgesamt hatten nur 4 der 32 Wahlbezirke – drei in Glasgow und Umgebung sowie die Hochburg Dundee – für die Loslösung von Grossbritannien gestimmt. Bildquelle: Reuters.
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Bild 12 von 13. Stimmauszählung in Aberdeen: Das Interesse am Referendum – das zeichnete sich bereits im Vorfeld ab – war riesig. Insgesamt beteiligten sich über 84 Prozent an der Abstimmung. Auch das dürfte historisch sein. Bildquelle: Reuters.
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Bild 13 von 13. Um 6.10 Uhr Ortszeit – gut acht Stunden nach Schliessung der Abstimmungslokale – war der Entscheid nicht mehr zu kippen. In Grossbritannien bleibt zumindest geografisch alles beim Alten. Bildquelle: Reuters.