SRF News: Sie sagen, der Westen habe keine Strategie gegen die Terrormiliz IS gefunden.
Michael Lüders: Ja, denn einerseits will man den IS bekämpfen, andererseits will man aber auch Syriens Machthaber Baschar al-Assad geschwächt sehen. Beides zusammen geht nicht. Die Amerikaner und ihre Verbündeten bombardieren aus der Luft IS-Stellungen, und die irakische Armee übernimmt die Bodenoffensive. Diese Strategie funktioniert nicht. Der IS ist sehr lernfähig. Seine Kämpfer treten nur noch in kleinen Einheiten auf und nicht mehr in Konvois. So ist es schwieriger, sie zu bombardieren und grössere Schäden anzurichten. Zudem erweist sich die irakische Armee als unfähig. Sie ist schlecht bezahlt und korrupt. Die Regierung in Bagdad leistet wenig für die eigene Bevölkerung. Die irakischen Soldaten fliehen lieber, als zu kämpfen. Die Kämpfer sind schiitische Milizen, die vom Iran unterstützt werden. Sie tragen die wichtigste Last im Kampf gegen den IS.
Der IS funktioniert nicht mehr wie eine Miliz. Er wird geführt wie eine richtige Armee. Wie hat er das erreicht?
Wir stellen uns den IS immer als eine Terrorgruppe vor. Das ist er natürlich auch – aber nicht nur. Er ist weit mehr als das. Er verwirklicht gerade ein Staatsprojekt. In den von ihm kontrollierten Gebieten hat er eine staatliche Ordnung eingeführt. Das geht bis zur Besteuerung der dortigen Bevölkerung. Die militärischen Erfolge des IS erklären sich nicht zuletzt dadurch, dass sich viele der ehemaligen Generäle, Offiziere und Geheimdienstoffiziere des gestürzten Regimes von Saddam Hussein in den Reihen des IS wiederfinden. Oft bekleiden sie dort Führungspositionen. Sie wissen, wie man Krieg führt. Insoweit ist der IS eben nicht nur eine Horde von wilden Kriegern mit überschäumendem Bartwuchs und einer überaus reaktionären Weltanschauung. Vielmehr steckt dahinter eine sehr rationale Lenkung, die in einer Mischung aus Islam und Rache für den Sturz von Saddam Hussein versucht, so viel Einfluss wie möglich in Irak und in Syrien zu nehmen.
Erst wenn sich die sunnitische Kernbevölkerung im Zentrum Iraks gegen den Terror des IS wehrt, beginnt dessen Niedergang.
Der IS geht gegen all jene, die er als Andersdenkende und Andersgläubige bezeichnet, unglaublich brutal vor. So kann er nicht ewig weitermachen. Irgendwann wird sich sonst doch eine Gegenbewegung formieren?
Das sollte man in der Tat hoffen. Denn es ist die einzige Hoffnung, die man haben kann, mit Blick auf die Frage, wie der IS zu besiegen sei. Militärisch ist das nicht möglich. Man kann ihn höchstens immer wieder an der einen oder anderen Front zurückwerfen. In sich zusammenfallen wird er aber erst dann, wenn sich die Mehrheit der sunnitischen Kernbevölkerung im Zentrum Iraks gegen den Terror, die Gewalt und die fragwürdige Ideologie des IS zu wehren beginnt. Erst dann beginnt der Niedergang des IS. Im Augenblick gibt es keine Bewegung in den sunnitischen Stammesgebieten, die erkennen liesse, dass sie den Machtanspruch des IS herausfordern könnte.
Die Menschen in Syrien und in Irak müssen sich also selber zur Wehr setzen. Kann die Internationale Gemeinschaft denn überhaupt etwas tun?
Es gibt kein Patentrezept. Die bisherige Strategie der Amerikaner ist gescheitert. Die Saudis – aus Sicht des Westens die wichtigsten Verbündeten im Kampf gegen den IS – sind mit ihrem Krieg im Jemen beschäftigt. Ausserdem ist der wahhabitische Staatsislam in Saudi-Arabien ideologisch sehr eng mit dem IS verbandelt. Deshalb hat die Führung in Saudi-Arabien auch nicht wirklich den Ehrgeiz, den IS massiv zu bekämpfen. Ausserdem hassen viele vom saudischen Islam beeinflusste Muslime den schiitischen Islam wie die Pest. Für sie ist der IS ein Bollwerk gegen den schiitischen Iran. Sie wollen, dass der IS den Schiiten so viel Schaden wie nur möglich zufügt.
Dieser innerarabische Glaubenskrieg wird noch einige Jahre dauern.
Ja. Denn wir befinden uns erst in der Phase des Vorspieles und noch keineswegs in der des Endkampfes. Die nächsten Staaten, die sehr instabil sind, abgesehen von Syrien, Irak, Libyen und Jemen, sind Saudi-Arabien und Ägypten.
Das Gespräch führte Barbara Büttner.