Das druckfrische Buch liegt vor Gilles Kepel auf dem Tisch. Es ist eine detailreiche Geschichte des radikalen Islamismus in Frankreich. Geschrieben wurde es nach den Terroranschlägen in Paris vor einem Jahr, überarbeitet und ergänzt nach den Anschlägen vom November. Es ist aber eine Analyse, die Erklärungen liefert, die weit über Frankreich hinausgehen. Zum Beispiel für die Attentate in Jakarta und Istanbul in dieser Woche.
Ein saudischer Selbstmord-Attentäter sprengt sich in der Türkei vor einem Hotel in die Luft, tötet deutsche Touristen. Gilles Kepel erläutert: «Das löst einen Schock in Deutschland aus; mitten in der gesellschaftlichen Debatte über die Folgen der Flüchtlingskrise. Die Bundeskanzlerin Merkel ist politisch angeschlagen, die Übergriffe im Bahnhof Köln erschüttern die Öffentlichkeit.»
Die jüngsten Anschläge zeigen, wie die Terroristen die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen wollen.
Einen Keil in die Gesellschaft zu treiben, das sei das Ziel der Terror-Organisation Islamischer Staat, sagt Kepel. Diese sei im Gegensatz zu Al-Kaida, eine streng hierarchische Organisation mit einem Befehlsgeber an der Spitze. Daech – der islamische Staat – lasse wie ein Bienenschwarm einzelne Kämpfer ausschwärmen und Terroranschläge durchführen. Immer mit dem Auftrag die betroffene Gesellschaft zu spalten und die muslimische Bevölkerung zu radikalisieren.
«Die jüngsten Anschläge zeigen, wie die Terroristen die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen wollen – etwa in Deutschland: Je stärker dort der Zuspruch für Pegida mit ihren anti-islamischen Parolen in der Bevölkerung ist, desto näher glaubt sich die Terror-Organisation ihrem Ziel: mehr radikale Muslime für den Kampf zu gewinnen», analysiert der Soziologe.
Al-Suris technisches Handbuch für Terroristen
Gilles Kepel war vor zehn Jahren einer der ersten, der vor dieser neuen Gefahr und von der neuen Qualität des Terrorismus warnte. Alles basiert auf der Ideologie des radikalen Islamisten Al-Suri, syrisch-spanischer Doppelbürger, Ingenieur und selbsternannter Prediger. Sein Appell für den islamistischen Widerstand umfasst 1600 Seiten. Es ist zugleich ein technisches Handbuch für Terroristen, eine präzise Anleitung, wie das Internet als Propaganda-Instrument genutzt werden kann und eine programmatische Enzyklopädie für den radikalen Islamismus.
Al-Kaida verlor den Rückhalt in der muslimischen Bevölkerung. Das nutze die dritte Generation des Dschihad, um ihren Kampf von unten aufzunehmen.
Kepel hat den Appell minuziös dechiffriert – ohne grosses Echo. Die amerikanischen und europäischen Geheimdienste kannten den Appell zwar, hätten aber dessen zerstörerisches Potenzial völlig unterschätzt, weil sie sich zu sehr auf Al-Kaida konzentriert hätten, analysiert Kepel: «Die Geheimdienste setzten darauf, dass der Appell von Al-Suri dazu beitrage Al-Kaida zu bekämpfen; so war es auch: Al-Kaida verlor den Rückhalt in der muslimischen Bevölkerung. Das nutze die dritte Generation des Dschihad, um ihren Kampf von unten aufzunehmen.»
Internet unterschätzt
Auf den ersten Fehler folgte gemäss Kepel ein zweiter: Die Sicherheitsbehörden verkannten die Rolle des Internets als Plattform für die schleichende Radikalisierung. Al-Suri konnte dank dem Internet eine grosse Zahl von Islamisten beeinflussen und für sich gewinnen. Diese wiederum rekrutierten gezielt junge Männer in den Gefängnissen; alles kleine Kriminelle, denen eine neue Perspektive im Namen des Islams versprochen wurde. Auch das hätten die Geheimdienste nicht kommen sehen, sagt Kepel.
Heute erscheint der IS so stark wie nie zuvor. Die Zahl der Anschläge, die Zahl der Todesopfer, selbst die Zahl der verhinderten Attentate könnten das bestätigen.
Das Ende des IS?
Keppel kommt hingegen zu einem anderen Schluss. Er sieht diese Form von Terrorismus, die Terror-Organisation Islamischer Staat, die Ideologie von Al-Suri an einem Wendepunkt. Eine Folge der Anschläge vom November in Paris: «Nach den Anschlägen im November reagierte eine grosse Zahl Muslime äusserst heftig, betonte, dass das nichts mit ihrem Verständnis des Islams zu tun habe und verurteilte den Terrorismus scharf.»
Die Terroristen hätten nämlich die ganze Bevölkerung zur Zielscheibe genommen, wahllos Menschen grausam niedergemetzelt – auch zahlreiche Muslime. Ganz anders als bei den Anschlägen auf die Redaktion von «Charlie Hebdo» und auf den jüdischen Supermarkt Hyper-Cacher. «Bei den Anschlägen im Januar auf ‹Charlie Hebdo› gab es viele, die sagten: Wir verurteilen Morde, aber die Betroffenen tragen eine Mitschuld, sie haben den Propheten entwürdigt. Im November war das anders.»
Der Terrorismus muss auf der einen Seite Angst und Schrecken verbreiten, um andererseits Sympathisanten für die eigene Sache zu gewinnen.
Darin erkennt Gilles Kepel einen politischen Fehler der Terror-Organisation Islamischer Staat. Wenn sich weite Teile der muslimischen Bevölkerung so deutlich abwenden würden, dann habe die grosse Bürgerbewegung, die Al-Suri mit seinem Appell anstrebte, keine Zukunft. «Der Terrorismus folgt einem Modell: Er muss auf der einen Seite Angst und Schrecken verbreiten, um andererseits Sympathisanten für die eigene Sache zu gewinnen. Das Modell wird sich weiterentwickeln. Mir scheint aber, dass der Islamische Staat einen politischen Fehler beging am 13. November, mit den Anschlägen in Paris.»