Vor wenigen Stunden hat Ungarn die letzte Lücke im Zaun geschlossen. Bei illegalem Grenzübertritt drohen Haft oder die Abschiebung. Den rigiden Umgang mit Migranten hat die Regierung Orban in Aussicht gestellt. Der Ministerpräsident gibt an, dass seine Grenzschützer jetzt die westeuropäische Wertordnung und Ungarns kulturelle Identität schützen würden.
SRF-Reporter Marcel Anderwert berichtet vom Grenzort Röszke zwischen Serbien und Ungarn. Er hat auch das Bahngleis gesehen, das man inzwischen von zahlreichen Bildern her kennt. Bis jetzt haben es Flüchtlinge passiert, die von Serbien her kamen. Doch jetzt ist auch dort der Zaun zu.
SRF: Herr Anderwert, wie war die Situation am Zaun?
Marcel Anderwert: Gestern Abend wurde dieser Zaun von den ungarischen Behörden geschlossen. Und zwar haben sie einen Güterwagen über das alte Gleis in den Grenzzaun reingeschoben und den Wagen mit dem Zaun verstrebt, ihn im Grenzzaun fest installiert – dass es kein Durchkommen mehr gab über diese Eisenbahnlinie. Die Flüchtlinge dirigierte man dann um. Man leitete sie zum nahen Grenzübergang, zum offiziellen Grenzübergang, bei der Hauptstrasse zwischen dem serbischen Horgos und dem ungarischen Röszke. Dort verluden die Behörden die Menschen in Busse, welche die Flüchtlinge zum Bahnhof nach Röszke brachten. Schliesslich wurden die Migranten in Züge verladen.
Funktionierte diese neue Ordnung auch heute Morgen? Gehen die Flüchtlinge jetzt zu diesem offiziellen Grenzübergang?
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Heute Morgen habe ich dort keine Flüchtlinge mehr gesehen. Ich weiss nicht, ob die dort nicht mehr empfangen werden. Ich habe auch keine Busse mehr gesehen, die von dort zum Bahnhof gefahren wären. Im Augenblick stehe ich am Bahnhof von Röszke. Am Bahnhof von Röszke kommt jede halbe Stunde ein Bus voller Flüchtlingen an, die wohl noch letzte Nacht an der Grenze aufgegriffen worden sind. Und die Polizei leitet die Flüchtlinge hier aus den Bussen heraus in einen bereitstehenden Zug. Schon in der Nacht ist ein erster solcher Zug losgefahren. Die Flüchtlinge werden sehr geordnet von der Polizei in die einzelnen Wagen gelassen und direkt an die österreichische Grenze gefahren. Nach meinen Informationen, ohne, dass sie registriert werden.
Die ungarische Regierung beabsichtigt, die Flüchtlinge weg von der sogenannten Grünen Grenze zu nehmen und hin zu den offiziellen Grenzübergängen zu bringen. Funktioniert das?
Das scheint zu funktionieren. Es gibt natürlich immer noch die Hunderte oder Tausende Flüchtlinge, die über die sogenannte Grüne Grenze kommen – die über den Zaun klettern, der stellenweise immer noch erst einen Meter fünfzig hoch ist, oder die sich von Schleppern führen lassen. Aber der quasi offizielle Flüchtlingsstrom konnte gestern nicht mehr übers Eisenbahngleis gelangen.
Was im Moment geschieht, kann ich im Moment nicht überblicken. Auch die ungarischen Journalisten vor Ort können sich kein Bild machen, ob die Grenze jetzt völlig zu ist oder ob es einen anderen Ort gibt, wo Flüchtlinge über die Grenze kommen. Gewiss ist indes, dass noch etwa 15 Busse mit Flüchtlingen vor dem Bahnhof in Röszke an einer Hauptstrasse warten.
Viele Flüchtlinge wussten, dass die Schliessung der Grenze auf den heutigen Tag kommt. Haben Sie den Eindruck, dass die Flüchtlinge hierdurch eingeschüchtert sind? oder ziehen sie ihr Vorhaben, nämlich die Flucht nach Europa, einfach durch?
Die Menschen sind sehr gut organisiert. Sie wissen, was auf dieser Route passiert. Denn Nachrichten sprechen sich sehr schnell über Smartphones herum. Aber ich glaube nicht, dass die Grenzsschliessung in Ungarn eine grosse Auswirkung gehabt hat auf den Flüchtlingsstrom. Nach meiner Information sind immer noch 15'000-20‘000 Menschen allein zwischen Belgrad und der ungarischen Grenze unterwegs. Es sind also noch Tausende Menschen unterwegs auf der Balkanroute.
Ungarn hat den Zaun auch zur Abschreckung gebaut. Dass die Flüchtlinge nicht nach oder nicht über Ungarn kommen. Warum braucht es diese Abschreckung überhaupt? Die Flüchtlinge sind ja gar nicht daran interessiert, in Ungarn zu bleiben, sondern wollen direkt weiterziehen.
Ich glaube, das hat vor allem innenpolitische Gründe. Diese rechtskonservative Fidesz-Regierung von Viktor Orban, die hat von Anfang mit dem Zaun der eigenen Wählerschaft, der eigenen Bevölkerung klar machen wollen, dass man etwas gegen die Flüchtlinge auf der Balkanroute unternimmt. Vielleicht hat man auch noch gehofft, dass durch die Verbreitung der Bilder des Stacheldrahtzauns in den internationalen Medien eine gewisse abschreckende Wirkung erzielt wird. Aber seit ich hier bin – drei Wochen sind das – hat der Zaun keine sichtbare Wirkung gezeigt.
Die Menschen sind trotzdem gekommen. Und ich bin überzeugt: Auch wenn jetzt dieses letzte Stück beim Eisenbahngleis dicht gemacht wurde, werden die Menschen neue Wege finden, nach Ungarn zu kommen. Notfalls gehen sie über die rumänische Grenze, die etwa 20 km von Röszke entfernt ist. Oder sie machen gar den Umweg über Kroatien und Slowenien. Der Flüchtlingsstrom, das ist mein Eindruck, wird sich nicht so einfach aufhalten lassen.
Das Gespräch führte Philippe Chappuis.