Das Phänomen der «Geisterschiffe» im Mittelmeer zeigt nach Ansicht der EU-Grenzschutzagentur Frontex einen «neuen Grad der Grausamkeit». «Das ist eine neue Erscheinung dieses Winters», sagte Pressesprecherin Ewa Moncure. Der Schmuggel von Flüchtlingen sei ein «Multimillionengeschäft».
Für die Schmuggler lohne sich die Rechnung, wenn ein bereits ausgemustertes Schiff ohne Crew und Treibstoff auf dem Meer zurückgelassen werde.
Maximale «Rendite» für die Schlepper
Beat Schuler vom UNHCR kommt beim Flüchtlingsschiff «Sky Blue M» mit 800 Personen an Bord auf bis zu 5 Millionen Franken Einnahmen für die Schlepper. Für eine Fahrt bezahle ein Flüchtling zwischen 5000 und 7000 Franken.
«Die Flüchtlinge zahlen in eine Gesellschaft ein, die den Betrag verwaltet. Sobald die Dienstleistungen erbracht sind, also die Überfahrt gelungen ist, dann werden die Geldbeträge ausbezahlt. Somit ist das Risiko für die Flüchtlinge kleiner, dass sie ihr Geld verlieren.»
Flüchtingstransport im grossen Stil
Die Vereinten Nationen warnen vor dieser neuen Taktik der Schleuserbanden. In den vergangenen zwei Monaten seien verstärkt alte Frachter ohne elektronische Hilfsmittel eingesetzt worden, um heimlich Flüchtlinge nach Europa zu bringen. Die Frachter seien gekauft, geleased oder geklaut und kämen zumeist aus der Türkei, führt Beat Schuler aus.
Roger Witschi, Hochseekapitän und Schifffahrtsexperte, mutmasst gegenüber «10vor10», dass es sich bei den Frachtern um ausgemusterte Küstenmotorschiffe aus der Nord- und Ostsee handeln könnte. Diese seien über Weiterverkäufe ins östliche Mittelmeer gelangt – und könnten dort auf «Chartermärkten» für wenig Geld von den Schleppern gemietet werden.
«Seriös wirkende Personen, die sich beispielsweise als Warentransporteure ausgeben, können solche Schiffe durchaus kurzfristig chartern. Für einen Tag, eine Woche, ähnlich wie bei der Autovermietung.» Dies sei bereits für 2000-3000 Dollar pro Tag möglich – maximale Rendite also.
«Verladung» auf internationalen Gewässern?
Doch wie schaffen es hunderte Asylsuchende unbemerkt an Bord der Frachter? «Vermutlich fand die Bemannung mit den Flüchtlingen auf internationalen Gewässern statt, über kleine Schlepperboote, wie man sie bereits kennt. Alles andere wäre ein sehr grosses Versagen der Behörden.»
Schuler sieht weitere Vorteile für die Schlepper: «Es gibt in der Türkei über eine Million syrische Flüchtlinge. Es ist einfacher, direkt von der türkischen Küste aus abzulegen als zuvor nach Libyen zu gelangen – per Flugzeug oder auf dem Landweg – und von dort eine Bootsfahrt nach Lampedusa oder Sizilien zu riskieren».
Ende von «Mare Nostrum» als Begründung
Hintergrund sei zugleich auch das Ende des italienischen Hilfseinsatzes «Mare Nostrum». Dadurch werde eine Überfahrt der Flüchtlinge in kleineren Schiffen gefährlicher. Die Mission wird zwar unter dem Namen «Triton» von den EU-Staaten weitergeführt, jedoch in begrenztem Umfang und mit deutlich weniger Mitteln.
Die Gefahr das Leben zu verlieren, ist aber auch auf den Frachtern gross. Denn auch auf den grossen Schiffen setzen sich die Schleuser unterwegs ab und schalten den Autopilot ein. Ohne Kapitän besteht die Gefahr, dass das Schiff kentert. Bisher hat die Küstenwache jedoch rechtzeitig eingegriffen.