Die türkische Regierung hat am Wochenende Demonstrationen in Istanbul zum Jahrestag der Proteste im Gezi-Park niedergeknüppelt.
Vor einem Jahr wehrten sich Bürger gegen die Pläne der Regierung, den Park am Rande des Taksim-Platzes zu überbauen. Der Aufstand schlug dann zu landesweiten Protesten gegen die autoritäre Regierung Erdogans um.
Mehr als hundert Demonstrierende wurden am Sonntag verhaftet, ihnen droht nun eine Anklage. Die Organisatoren und viele Teilnehmende des Gezi-Aufstandes vor einem Jahr stecken bereits in den Mühlen der Justiz.
Anwältin Nihan Güneli schüttelt den Kopf über die Anklage
Vor ein paar Wochen hat ein erster Prozess mit über 200 Angeklagten begonnen. Ihnen drohen zum Teil langjährige Haftstrafen. Die Anwältin Nihan Güneli, die einen Demonstranten verteidigt, äussert sich zu den laufenden Verfahren.
Nihan Güneli sitzt zwischen halb ausgepackten Umzugskisten. Die junge Anwältin kommt nicht dazu, sich in ihrem neuen Büro in der Innenstadt von Istanbul einzurichten. Das habe jetzt auch keine Priorität, sagt sie, wo es darum gehe, angeklagte Demonstranten vor Gericht zu vertreten.
«Das Urteil ist bereits gefällt.»
Diese Aufgabe ist für Nihan Pflicht und Belastung: «Einer meiner Freunde wurde während der Gezi-Proteste letzten Sommer festgenommen. Da war es für mich klar, dass ich mich als Anwältin engagiere – auch wenn es eigentlich eine unmögliche Aufgabe ist», sagt sie. Denn die Juristin betrachtet ihr Land nicht als Rechtsstaat, die Justiz nicht als unabhängig.
«Diese Gezi-Prozesse sind schon im Voraus entschieden, die Regierung Erdogan hat das Urteil bereits gefällt, ähnlich wie im Ergenekon-Prozess, wo Dutzende Oppositionelle ohne Beweise verurteilt wurden», ist Nihan überzeugt. Es seien politische Prozesse, um die türkische Opposition weiter einzuschüchtern.
Für eine Anklage genüge es, wenn die Polizei oder der Geheimdienst eine Person während der Protesttage im letzten Sommer auf dem Taksim-Platz auf Fotos oder Überwachungsvideos finde. Allein weil sie dort waren, verstiessen die Bürger gegen das Demonstrations- und Versammlungsverbot und landeten vor dem Richter, sagt die Anwältin. So auch ihr Mandant. Das sogenannte Anti-Terror- und das neue Geheimdienst-Gesetz setzten der Verfolgung von Bürgern keine Grenzen mehr.
Überwachung mit Fotos, Videos und der sozialen Medien
Beweise, lacht Nihan, die bräuchte die Regierung nicht. Sie verfolgten jede Äusserung auf Twitter, die jemand absetze. Oder sie durchsuchten illegal die Wohnungen der Mitglieder der Taksim-Plattform, die unterdessen zu einer verbotenen Organisation erklärt wurde.
So drohen etwa Mücella Yapici 29 Jahre Haft. Die 63-jährige Architektin ist Gründungsmitglied der Bürgerinitiative Taksim-Solidarität. Wie umfassend die türkische Justiz ermittelt, erkannte die Juristin Nihan Güneli, als sie sich auf die Verteidigung ihres Mandanten vorbereitete und die Akten einsehen konnte: «In diesem Fall geht es um den 7. Juli letzten Jahres: jeder, der an diesem Tag auf dem Taksim-Platz oder in der Umgebung war, ist in der Akte verzeichnet. Kein einziger Kopf ist unkenntlich gemacht oder abgedeckt worden», sagt Nihan.
«Die Türkei ist ein Polizeistaat. Keine Demokratie. Jeder Bürger, jede Bürgerin kann in diesem Land kriminalisiert werden», sagt die Anwältin. Selbst Ärzte, die nur ihre Pflicht tun: Weil sie letzten Sommer in einer Moschee verletzte Demonstranten versorgten, stehen auch Mediziner vor Gericht.
Sie hatten Menschen behandelt, die vor dem Tränengas und den prügelnden Polizisten in die Moschee geflüchtet waren. Einige von ihnen wären mit Kopfverletzungen und schweren Knochenbrüchen ohne medizinische Hilfe gestorben, sagen die Ärzte. In der Anklage heisst es dagegen: Die Ärzte seien Vandalen und hätten eine religiöse Stätte entweiht.
(eglc/kurn;widb)