Erdogan war nach den schweren AKP-Verlusten im Juni angeschlagen. Mit dem spektakulären Wahlsieg vom Sonntag ist diese Scharte wieder ausgewetzt – und Erdogan sitzt fester im Sattel denn je.
Zwar bedeutet der AKP-Sieg ein Ende der politischen Hängepartie in der Türkei. Doch Europa kann sich in der Flüchtlingskrise doch nicht ganz auf Erdogan verlassen. Zu sprunghaft ist der Präsident, zu sehr teilt er immer wieder gegen den Westen aus.
Verfassungsreform nicht im Alleingang
Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu hat nach dem Wahlsieg seiner konservativ-islamischen AK-Partei eine Verfassungsreform gefordert. «Ich rufe alle Parteien, die in das Parlament einziehen auf, sich auf eine neue zivile nationale Verfassung zu verständigen», sagte Davutoglu in einer Ansprache vom Balkon des Parteigebäudes in Ankara.
Die AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte bei der Abstimmung am Sonntag überraschend die absolute Mehrheit zurückerobert. Für eine von Erdogan angestrebte Verfassungsänderung ist sie aber auf die anderen Parteien angewiesen, weil es dazu einer Zweidrittel-Mehrheit bedarf. Erdogan strebt eine politische Aufwertung des Präsidentenamtes hin zu einer Präsidialherrschaft.
Kritiker lasten Erdogan das Chaos an
Die Polarisierung in der Türkei wurde nach Einschätzung von Beobachtern von Erdogan bewusst vorangetrieben. Kritiker werfen dem Präsidenten vor, er habe das Land bewusst ins Chaos abgleiten lassen, um abspenstige Wähler wieder um die AKP zu scharen.
Seit der Wahl im Juni ist die Türkei immer tiefer in einen Strudel der Gewalt versunken. Es kam zu schweren Anschlägen, die der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) angelastet werden und die vor allem Anhänger der HDP trafen.
Friedensprozess torpediert
Erdogan beendete im Juli, kurz nach den letzten Wahlen, den Friedensprozess mit der Kurdischen Arbeiterpartei PKK. Oppositionelle, Kurden und kritische Medien warfen Erdogan ein falsches Spiel vor: Der Präsident gebe vor, er bekämpfe die IS-Terrormiliz in Syrien entschlossen, lenke damit aber nur davon ab, dass es ihm um die kurdische Arbeiterpartei PKK gehe.
Tatsächlich waren die türkischen Angriffe auf die PKK-Stellungen härter und verheerender als die Schläge gegen den IS in Syrien. Erdogan liess zwar IS-Führer verhaften, gleichzeitig waren auch sehr viele Kurden darunter, die der demokratischen Partei HDP angehören, viele Aktivisten, viele Linke und Oppositionelle.
Der Ko-Vorsitzende der HDP kritisierte am Sonntagabend denn auch, die Partei habe wegen der Angriffe keinen Wahlkampf führen können: «Wir haben nur versucht, unsere Leute gegen Massaker zu schützen.»
Auch PKK mitschuldig
Dass der Konflikt mit der PKK wieder offen ausbrach, in deren Nähe Erdogan die prokurdische HDP regelmässig rückt, war aber auch die Schuld der PKK. Weder die PKK noch der Staat zeigten sich bereit, der Eskalation ein Ende zu setzen.
«Der Krieg der PKK hat der HDP geschadet, da gibt es keinen Zweifel», sagt der Türkei-Experte Aaron Stein vom Atlantic Council in Washington. «Der AKP ist es gelungen, die Wähler davon zu überzeugen, dass es im besten Interesse der Türkei ist, zu einer Einparteienregierung zurückzukehren.»
Erdogan hat das Land im Griff
Seit seiner Wahl zum Staatsoberhaupt im August vergangenen Jahres regiert Erdogan de facto das Land, obwohl die Verfassung diese Rolle dem Ministerpräsidenten zuschreibt. Ministerpräsident Ahmet Davutoglu ist zugleich Chef der AKP. Er und die Partei sind Erdogan bedingungslos ergeben. Nach dem Verlust der absoluten Mehrheit im Juni und der Festsetzung von Neuwahlen spotteten Kritiker, Erdogan werde die Türken so lange wählen lassen, bis ihm das Ergebnis passt.
Nun haben die Türken Erdogans AKP also tatsächlich wiedergewählt. «Die Anschläge und die Gefechte haben die Menschen in der Türkei sehr verunsichert und offenbar haben sehr viele Wähler deshalb die AKP als Hort der Stabilität bevorzugt und einer möglichen Koalition zwischen der AKP und einer anderen Partei eine Absage erteilt», sagt der Journalist Thomas Seibert in Istanbul.