Ein Klassenzimmer in Istanbul. Statt Kindern sitzen erwachsene Türken an den Pulten, lauschen aufmerksam einer energischen jungen Frau. Ihre Powerpoint-Präsenation handelt nicht etwa von Geschichte oder Mathematik, sondern von Wahlfälschung.
Sie hoffe, sagt eine Zuhörerin, dass es keinen Betrug geben werde. «Aber vieles deutet darauf hin, dass es doch so sein wird. Ich will mein Bestes geben, um das zu verhindern.»
Seit Wochen bildet die Initiative «Oy ve Ötesi» in Istanbul und anderswo Türken zu Wahlbeobachtern aus. Wenn am Sonntag ein neues Parlament gewählt wird, sollen sie jede Urne im Land überwachen. In nur wenigen Wochen haben sich mehr als 70'000 Freiwillige gemeldet. Das zeugt nicht nur von einer äusserst erfolgreichen Kampagne, sondern auch vom grossen Misstrauen gegenüber der türkischen Regierung. Der Graben zwischen Erdogan-Gegnern und Erdogan-Anhängern ist so tief wie nie.
Nur vier Prozent sind unentschieden
Die Wähler sollten ihren «Fehler vom 7. Juni korrigieren», hatte der Präsident die Türken vor wenigen Wochen aufgefordert und damit auf die Wahlen vom Sommer angespielt, bei denen die AKP ihre absolute Mehrheit verlor.
Doch Politbeobachter wie Özer Sencar bezweifeln, dass sich die Hoffnungen des AKP-Mitbegründers erfüllen werden. «Unsere Umfragen zeigen, dass 94 Prozent der Menschen genauso wählen wollen, wie sie es im Juni getan haben», sagt Sencar. «Nur vier Prozent sagen, sie seien noch unentschieden.»
Keine der türkischen Parteien, so steht inzwischen fest, konnte von dem Chaos der letzten Monate profitieren. Auch der pro-kurdischen HDP scheint es zumindest nicht geschadet zu haben. Sie wird die 10-Prozent-Hürde am Sonntag wohl erneut überwinden – und der AKP-Merheit damit wieder gefährlich werden.
«Der Präsident selbst erwartet keinen grossen Sieg mehr»
Dass auch Präsident Erdogan alles andere als siegessicher ist, zeigt die Art und Weise, wie er gegen jeden vorgeht, der seine Macht in Frage stellt. Fast 250 Mal zog er seit seinem Amtsantritt vor 14 Monaten wegen angeblicher Präsidentenbeleidigung vor Gericht. Verklagt wurden Journalisten, Schriftsteller, aber auch Studenten und sogar Schüler.
Umfragen zeigen, dass die persönliche Beliebtheit Erdogans sinkt. Selbst innerhalb der AKP, so hört man, wachse die Kritik. Dass sich Erdogan im nun beendeten Wahlkampf auffällig still verhielt, mag das bestätigen. «Der Präsident selbst erwartet keinen grossen Sieg mehr», glaubt Suat Özcelebi, Politikberater aus Istanbul.
Grabenkämpfe und Chaos
Doch was dann? Das wohl schlimmste Szenario, das die Türken dann erwarten dürfte, fasste Mehmet Ali Sahin, führender AKP-Politiker, vergangene Woche bereits in Worte. «Sollte das Ergebnis dem vom Juni ähneln, befürchte ich, dass erneut Neuwahlen im Raum stehen», sagte er. «Solange aber gewählt wird, kann sich die Türkei nicht so schnell entwickeln, wie wir es wollen. Deswegen ist es wichtig, dass am 1. November eine Partei die alleinige Mehrheit bekommt.»
So klein die Chancen dafür, so gross ist die Gefahr, dass Grabenkämpfe und Chaos in der Türkei auch mit dieser Wahl kein Ende finden.