SRF News: Sie waren mehrere Tage lang mit kurdischen Peschmerga-Kämpfern im Sindschar-Gebirge unterwegs. Wie kam es zu diesem Kontakt?
Pascal Weber, Nahost-Korrespondent: Die Kurden bringen grosse Opfer im Kampf gegen den IS – und das wollen sie der Welt auch zeigen. Deshalb ist es eigentlich sehr einfach, Kontakte zu knüpfen und auch bis an die Frontlinie mitgenommen zu werden. Die Kurden sehen das als eine Chance, der Welt zu zeigen, dass sie ihren eigenen Staat verdient haben.
Nach monatelangen Gefechten ist der IS zurzeit stark geschwächt. Peschmerga und jesidische Milizen, die sie ebenfalls begleiten konnten, schöpfen Hoffnung. Wie haben Sie die Stimmung unter den Kämpfern erlebt?
Es ist wie immer in diesem Teil der Welt: Was man als erstes sieht oder hört, entspricht kaum je der ganzen Wahrheit. Die Kämpfer zeigen sich tatsächlich sehr optimistisch. Manche sagten uns, hätten sie die gleichen Waffen wie der IS, könnten sie die strategisch wichtige Stadt Mosul innerhalb von 24 Stunden zurückerobern. Das glaube ich so nicht. Der IS mag geschwächt sein, aber geschlagen ist er noch lange nicht. Sowohl die Peschmerga als auch die Jesiden erleiden immer wieder starke Rückschläge. Auf Seiten der Peschmerga sind nur schon nach offiziellen Angaben etwa 1000 Kämpfer gefallen. Es dürften aber weit mehr sein. Dieser Krieg ist noch lange nicht gewonnen.
Sie teilen den Optimismus nicht?
Nur bedingt. Der IS ist in dieser Region definitiv geschwächt. Die kurdischen Kämpfer treiben die Angreifer tatsächlich zurück. Gleichzeitig besteht der IS vor allem im Norden des Irak aber nicht nur aus einer verrückten Truppe von irren Terroristen. Der IS ist dort weit mehr in der Bevölkerung verankert als in anderen Teilen. Und genau das macht es so schwierig. Der IS kann immer noch auf eine grosse Unterstützung durch sunnitische Stämme im Norden des Irak zählen. IS-Kämpfer können dort mit der lokalen Bevölkerung verschmelzen und sich verstecken. Das macht es sehr schwierig, sie einfach nur mit militärischer Kraft zu bezwingen. Das wird so nicht möglich sein.
In Folge der Kämpfe haben sich in den vergangenen Monaten Tausende Menschen vor dem IS ins Sindschar-Gebirge geflüchtet. Viele von ihnen harren noch heute dort aus. Unter welchen Bedingungen leben diese Menschen?
Die Bedingungen sind katastrophal. Es fehlt an allem. Die meisten Menschen leben in zerrissenen Zelten – bei Temperaturen, die auch jetzt nachts noch unter Null sinken. Die meisten haben kaum Kleider, es gibt zu wenig zu essen und zu trinken. Was wir auf der ganzen Reise nie gesehen haben, sind internationale Hilfswerke, die dringend benötigte Hilfe leisten würden. Das hat vor allem mit der Sicherheitslage auf dem Berg zu tun. Es ist dort tatsächlich noch gefährlich – einzelne Dörfer sind erst seit ein paar Tagen befreit, die Frontlinien bewegen sich vorwärts, aber eben auch wieder rückwärts. Das ändert aber nichts daran, dass Hilfe dort ganz dringend benötigt wird.
Die Städte und Dörfer, aus denen die Menschen vertrieben wurden, sind regelrechte Geisterstädte – Sie zeigen das in ihren Beiträgen. Viele Orte sind komplett zerstört. Wollen die Menschen dennoch zurückkehren?
Die Jesiden, mit denen wir gesprochen haben, wollen auf jeden Fall wieder zurückkehren. Der Sindschar ist ihr heiliger Berg, dort befindet sich die zweitheiligste Stätte des Jesidentums überhaupt – der Tempel Sherfedin. Die Menschen sagen: ‹Das ist unser Land, wir lassen uns hier nicht vertreiben.› Gleichzeitig ist die gezielte Zerstörung der Dörfer durch den IS so gross, dass dort in absehbarer Zeit wohl kaum wieder normales Leben möglich sein wird. Die meisten Häuser sind gesprengt. In denen, die noch stehen, sind möglicherweise Sprengfallen versteckt. Das alles geschah in der Absicht, den ganzen Landstrich unbewohnbar zu machen.
In Ihren Beiträgen ist immer wieder auch Gefechtslärm zu hören. Wie gefährlich war dieser Einsatz für Sie als Fernsehteam?
Wir hatten selten das Gefühl, unmittelbar in Gefahr zu sein. Wir sind aber auch nicht die, die um jeden Preis an die vorderste Front wollen. Es gab eine heikle Situation. Als wir uns der Stadt Sindschar näherten, hörten wir plötzlich Gewehrfeuer. Es fiel ein Schuss, dann ein zweiter. Als wir dann beim dritten Schuss das Sirren der Kugeln in der Luft hörten, wussten wir, dass wir möglicherweise tatsächlich in der Schusslinie eines Snipers sein könnten. Die schnelle Reaktion unseres Fahrers hat uns dann hinter einen Sandhaufen gerettet.
Was sind die prägendsten Eindrücke, die Sie von dieser Reportagereise mitbringen?
Ich konnte mir zuvor kein Bild machen von der tatsächlichen Zerstörung in dieser Gegend – und zwar physisch wie psychisch. Wir sind an komplett zerstörten Dörfern vorbeigefahren. Und wir standen an Massengräbern, an Stellen, an denen der IS hunderte Menschen umgebracht hat. Wir sahen auf einem dieser Massengräber immer noch Kinderkleider liegen – auf einem Boden, der auch ein halbes Jahr nach diesem Verbrechen noch von Blut getränkt war. Das ist unvorstellbar. Ebenso unvorstellbar ist es, dass in dieser Gegend in absehbarer Zeit so etwas wie Frieden oder Ruhe einkehren könnte. Diese Region ist auf ganz, ganz lange Zeit hinaus kaputt.