SRF News: Das Flüchtlingslager von Calais und die damit verbundenen Probleme sind nicht neu. Warum werden sie gerade jetzt wieder zum Thema?
Charles Liebherr: Die Bevölkerung, Vertreter der lokalen Wirtschaft, Regionalpolitiker – sie alle haben schlichtweg keine Lust mehr, von Paris auf später vertröstet zu werden. Mit jedem Tag wird der Ärger grösser, weil die Lage sich stetig verschlechtert. Das liegt nicht nur, aber auch an der steigenden Zahl der Migranten. Dazu zählen auch die immer dreisteren Mittel, die sie wählen, um in Lastwagen entlang der Autobahn zu gelangen. Niemand negiert ihre missliche Lage. Aber alle Betroffenen sind der Meinung, dass die nationalen Behörden und die Regierung die Region im Stich lassen und viel zu langsam reagieren.
Innenminister Cazeneuve war letzte Woche in Calais und hat versprochen, die Räumung geschehe bald. Darf man diesem Versprechen glauben?
Nein. Cazeneuve hat bewusst keine Details genannt, wann und wie das Zeltlager mit tausenden Menschen geräumt werden soll. Gelingen könnte das ohnehin nur, wenn die bestehenden Container-Lager vergrössert würden – was die Regierung explizit ablehnt. Auch das Netz von alternativen Ausweichstellen im Rest von Frankreich müsste ausreichend gross sein. Ein Beispiel: Die Stadt Paris will im Herbst zwei Flüchtlingslager im Norden und Süden der Stadt eröffnen. Das wird etwas Milderung in Calais bringen. Das Hauptproblem ist, dass andere Städte im Land nicht mitziehen. Es fehlt an ausreichenden Aufnahmezentren, auf welche die Migranten von Calais verteilt werden könnten, wo sie ein Asylgesuch stellen und provisorisch untergebracht werden könnten.
Die Zahl der Migranten in Calais hat in den letzten Wochen wieder stark zugenommen. Wie erklärt sich diese Entwicklung?
Einerseits ist es eine direkte Folge der über die Sommermonate stark angestiegenen Flüchtlingsströme über das Mittelmeer. Andererseits hat sich unter den Migranten, die nach Frankreich kommen, offenbar die Meinung verbreitet, dass sie am besten direkt nach Calais reisen sollten, um dort ein Asylgesuch zu stellen. Das mag paradox klingen. Doch die hiesigen Asylbehörden berichten davon, dass eine steigende Zahl von Migranten in Frankreich bleiben will. Sie möchten offenbar das entsprechende Gesuch in Calais einreichen, weil sie dort nachweislich besser betreut werden.
Schon bald werden wir wieder die bekannten Bilder sehen.
Sie waren schon mehrmals im «Dschungel von Calais» und haben selber gesehen, unter welch misslichen Bedingungen die Menschen leben. Wie schätzen Sie die aktuelle Situation im Lager ein?
In Calais und auch bei Dünkirchen wurden dieses Jahr feste Empfangszentren eingerichtet, um Flüchtlinge aufzunehmen und zu versorgen. Wer dort einen Platz erhält, ist besser betreut als in der Vergangenheit. Das gilt insbesondere für Frauen und Kinder, die häufig alleine reisen. Diese Massnahmen halten aber nicht Schritt mit den Wellen von Flüchtlingen, die in Calais ankommen. Zurzeit ist das Leben in den illegalen Zeltstädten wegen des relativ milden Wetters einigermassen erträglich. Sobald das Wetter wieder schlechter wird, werden wir wieder die bekannten Bilder aus Calais sehen. Hilfsorganisationen und Behörden vor Ort warnen davor, dass sich das alles schon bald wiederholen wird.
Heute hat sich auch Nicolas Sarkozy, der Ex-Präsident und erneute Präsidentschaftskandidat, gemeldet. Er will alle Flüchtlinge in Lager stecken und zwar in Grossbritannien. Was ist von dieser Forderung zu halten?
Wenig. Es ist Vorwahlkampf in Frankreich, und es fehlt daher nicht an simplen Rezepten, mit denen die Kandidaten bei ihrer potenziellen Wählerschaft punkten wollen. Die Realität ist natürlich viel komplexer. Frankreich hat sich in einem bilateralen Abkommen verpflichtet, Asylbewerber auf dem Festland in Frankreich zu betreuen. Sarkozy hat diesen Vertrag selber unterschrieben, er lässt sich nun auch nicht so einfach aufkündigen.
Wenn, dann müsste ein neues Abkommen Teil einer Gesamtlösung im Rahmen der Brexit-Lösungen von Grossbritannien mit der EU sein. Das Land muss ein ganzes Paket an bilateralen Verträgen neu verhandeln mit Grossbritannien; dazu gehören die atomare Zusammenarbeit oder auch Verteidigungsfragen. Frankreich ist hier Bittsteller und kann nicht einfach ein Abkommen herauslösen. Diese Realität passt natürlich nicht zu den Profilierungsbemühungen der Politiker im Wahlkampf.
Das Gespräch führte Nicoletta Cimmino.