Die Zahlen sprechen eine traurige Sprache: Die Arbeitslosigkeit in Gaza ist die höchste weltweit und beträgt laut Zahlen der Weltbank 43 Prozent. Bei den Jugendlichen sind sogar 60 Prozent ohne Arbeit. Da überrascht es wenig, dass jeder zweite Palästinenser Gaza verlassen möchte, wie kürzlich eine Umfrage ergeben hat.
Der düsteren wirtschaftlichen Realität zum Trotz sitzt die islamistische Hamas in Gaza fest im Sattel. Das dürfte zum einen daran liegen, dass es zur Hamas keine Alternative gibt, weil sie eine solche gar nicht erst toleriert. Zum anderen geniesst die Bewegung bei den Einwohnern des Gazastreifens noch immer eine grosse Unterstützung, sagt Aitemad Muhanna-Matar vom Middle East Center der London School of Economics (LSE).
Auf der Suche nach neuen Freunden
Der Grund für Hamas‘ Popularität liege darin, dass die Islamisten pragmatischer geworden seien – nicht zuletzt nach dem jüngsten Krieg gegen Israel, sagt Muhanna-Matar. «Die Bevölkerung mag einen weiteren Krieg im Moment nicht mittragen, gleichzeitig hat die israelische Blockade einen zerstörerischen Effekt auf die Wirtschaft.» Dessen sei sich die Hamas bewusst. Deshalb suche sie auf inoffiziellen Wegen das Gespräch mit Israel. Dies hatte zur Folge, dass die Blockade in gewissen Teilen etwas gelockert wurde.
Der neue Pragmatismus zeigt sich laut Muhanna-Matar auch darin, dass Hamas-Führer Khaled Meshaal vergangene Woche auf der Suche nach regionaler Unterstützung nach Saudi-Arabien gereist ist. Und dies, obwohl die Saudis der Hamas bislang nicht eben wohlgesinnt waren. Vielmehr unterstützen sie Ägypten darin, die Muslimbruderschaft zu unterdrücken, aus welcher die palästinensische Hamas einst hervorgegangen war.
Auf Razzien folgen Anschläge
Dass die Hamas neue Partner sucht, hat – neben dem Abkühlen der Beziehung zu Iran – auch mit einem anderen Phänomen zu tun. Denn die palästinensischen Islamisten mussten feststellen, dass sie Konkurrenz erhalten haben: durch lokale und regionale Dschihadisten-Gruppen.
Salafistische Dschihad-Gruppen gibt es in Gaza zwar schon lange. Doch mit dem Erstarken der Extremisten ist in den letzten Monaten ein offener Konflikt ausgebrochen. So zerstörte die Hamas im Mai eine Salafisten-Moschee und verhaftete mehrere Anführer. Darauf zündeten die Extremisten Bomben gegen Hamas-Einrichtungen, worauf diese erneut gegen die Salafisten vorging.
Zu kompromissbereit?
Für das Erstarken der Dschihadisten gibt es mehrere Gründe, sagt Aitemad Muhanna-Matar. «Da ist zum einen die aussichtslose wirtschaftliche Situation in Gaza, die sich durch die beidseitige Blockade von Israel und Ägypten noch verschlimmert hat.» Diese verleite einige junge Männer dazu, sich den Dschihadisten anzuschliessen.
Daneben geben die Erfolge der Terrormiliz Islamischer Staat den Dschihadisten Auftrieb – selbst wenn es sich in Gaza vor allem um ein lokales Phänomen handelt, wie Zvi Barel von der liberalen israelischen Zeitung Haaretz sagt.
Die Dschihadisten werfen der Hamas vor, gegenüber Israel zu kompromissbereit zu sein und verlangen die Einführung der Scharia als alleiniges Gesetz. Letzteres hatte sich einst auch die Hamas auf die Fahnen geschrieben.
Doch zwischen Ideologie und praktizierter Politik bestehe eben ein grosser Unterschied, sagt die Palästinenserin Muhanna-Matar. «Die Hamas weiss genau, dass die Einführung der Scharia bei der Bevölkerung nicht gut ankommen würde.» Genau diese Flexibilität sei mit ein Grund, warum die Hamas den Gazastreifen so erfolgreich regiere, sagt auch Zvi Barel. «Ihren Mitgliedern ist bewusst, dass nicht alle Leute gleich religiös sind.»
Ein Krieg, den keiner will
Doch wie gross ist die Gefahr, die von den Dschihadisten ausgeht? Laut Studien beläuft sich die Anzahl Dschihadisten in Gaza auf rund 1000. Keine Übermacht also. Dennoch seien sie nicht zu unterschätzen, sagt Barel.
So könnten die Dschihadisten mit ihrem Abfeuern von Raketen auf Israel einen weiteren Krieg provozieren, den sich weder Israel noch die Hamas wünschten. Problematisch werde es auch dann, wenn die Hamas über gewisse Teile von Gaza die Kontrolle verliere.
Muhanna-Matar sieht die grösste Gefahr darin, dass sich die wirtschaftliche Situation nicht verbessert und die Legitimität der Hamas-Regierung damit untergräbt.
«Ägypten und Israel, aber auch die USA und Europa müssen die Hamas darin unterstützen, wirtschaftliche Stabilität in Gaza herzustellen. Andernfalls gewinnen die Dschihadisten weiter an Zulauf», warnt sie. Eine weitere Isolation der Hamas führe hingegen zu einem politischen Vakuum. «Und ein solches kann in Gaza nur von den Dschihadisten gefüllt werden.»